Unterm Strich
treuherzige Vorstellung auf, es müsse nur der private Konsum in Deutschland gefördert werden, dann käme automatisch die deutsche Nachfrage nach ausländischen Produkten auf Touren - unabhängig von ihrer Art, Qualität und Wettbewerbsfähigkeit. Auch die Vorstellung, Deutschland solle sich eine Art freiwillige Karenz- oder Fastenzeit für Exporte in den europäischen Binnenmarkt auferlegen, ist eher naiv. Wir konkurrieren im globalen Maßstab. Häufig vergessen wird von vielen Kritikern des deutschen Exportüberschusses schließlich, dass Deutschland auch Vizeweltmeister bei den Importen ist und als wichtigster Nachfrager für viele Länder einen stabilisierenden Effekt hat.
Grundsätzlich richtig ist allerdings auch, dass kein anderes Land der Welt in unserer Liga gegen Strukturverschiebungen und Schwankungen im Welthandel so anfällig und damit so verletzbar ist wie Deutschland. Wenn Länder wie die USA, Großbritannien und Spanien ihre Leistungsbilanzdefizite deutlich zurückfahren sollten, hätte dies unmittelbare Auswirkungen auf die deutsche Exportwirtschaft. Dierk Hirschel, Chefökonom des DGB, hat ausgerechnet, dass Deutschland einen jährlichen Wachstumsverlust von 2 Prozent verzeichnen würde, wenn allein diese drei Länder ihr Leistungsbilanzdefizit um zwei Drittel reduzieren würden. Seine Einschätzung, dass damit die Gefahr massiver struktureller Verwerfungen heraufbeschworen werde, beschreibt die Herausforderung zutreffend.
Die Antwort auf das interne Ungleichgewicht zwischen einer hochentwickelten Exportwirtschaft einerseits und einer verhältnismäßig schwachen Binnennachfrage andererseits liegt nicht in der Preisgabe unserer Außenwirtschaftsposition, sondern in einer strukturellen Stärkung der inländischen Nachfrage. Denn es stimmt, dass die deutsche Inlandsnachfrage - präziser: der private Konsum - chronisch schwach ist und jedenfalls nicht zu den treibenden Zylindern des deutschen Konjunkturmotors gehört. Angesichts offenkundiger Defizite bieten sich dafür beispielsweise Dienstleistungen an - von der Kinderbetreuung über Bildung bis zur Pflege und Gesundheitsversorgung - sowie Infrastrukturinvestitionen und mehr Sachkapitalinvestitionen. Wenn der private Konsum gestärkt werden soll, drängt sich aber auch unvermeidbar die konfliktbehaftete Frage nach der Einkommensentwicklung und Vermögensverteilung auf die politische Tagesordnung. Ebenso werden zur Stärkung der Kaufkraft qualifizierte Arbeitsplätze benötigt; das bedeutet, dass Deutschland den Unfug einer weitgehenden Deindustrialisierung nicht nachahmt, sondern einen industriellen Kern mit entsprechenden inländischen Arbeitsplätzen zumindest hält, auf der Basis von Spitzentechnologien möglichst ausbaut.
Die Diskrepanz zwischen Auswärtsstärke und Heimschwäche wirft die grundsätzliche Frage auf, wie das Wachstumsmodell für Deutschland auf mittlere und lange Sicht aussehen soll. Unabhängig davon, dass der Begriff Wachstum problematisiert und wohl neu definiert werden sollte, wird sich Deutschland darauf einstellen müssen, dass es seinen derzeitigen Anteil am Weltmarkt von 9 Prozent (2008) nur schwerlich halten, geschweige denn erhöhen kann. Deutschland ist zwar in einigen Traditionsbranchen absolute Weltspitze, aber weniger in Branchen mit Entwicklungs- und Anwendungspotenzialen wie beispielsweise der Computer-, Nano-, Bio- und modernen Antriebstechnologie.
Wenn die jetzige Bundesregierung wie kaum eine zuvor das Mantra vom Wachstum bemüht, um sich und dem Publikum nicht eingestehen zu müssen, dass die Senkung von Steuern, die Steigerung von (Bildungs-)Investitionen, die Konsolidierung des Haushalts und zusätzliche internationale Verpflichtungen nicht gleichzeitig auf einen Nenner zu bringen sind, dann stellen sich zwei Fragen: die erste nach dem Plan A, wo denn im nächsten Jahrzehnt das benötigte Wachstum für Deutschland generiert werden soll, und die zweite Frage nach dem Plan B, wie die Politik denn die Einbußen verteilt, wenn das Wachstum geringer ausfällt als prognostiziert. Die Zukunft der Republik - das ist meine feste Überzeugung - wird nicht mehr eindimensional-schicksalhaft an Wachstumsraten gekoppelt werden können.
Deutschland verfügt nach wie vor über erhebliche Stärken. Es hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts bewiesen, dass es entgegen den Abgesängen mancher Auguren Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen kann. Aber für die Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts sind wir nicht so gut
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