Unterm Strich
einfach durch.
Der britische Historiker Niall Ferguson hat in diesem Zusammenhang den trefflichen Begriff »Chimerika« geprägt. Der eine Teil dieser geographischen Fiktion »Chimerika« weist mit erheblichen Schulden seiner Bürger, einem Budgetdefizit von rund 10 Prozent seiner Wirtschaftsleistung, einer Staatsverschuldung von 13 Billionen US-Dollar und einem enormen Leistungsbilanzdefizit (2008 rund 700 und 2009 rund 420 Milliarden Dollar) darauf hin, dass er deutlich über seine Verhältnisse lebt. Deshalb braucht der Westen von »Chimerika« einen reichen Onkel im Osten, der ihm die ganze Sause mit Krediten und Beteiligungen finanziert. Die chinesischen Kapitalanlagen (nur Staatsanleihen) in den USA werden inzwischen auf rund 870 Milliarden Dollar geschätzt. Der chinesische Onkel freut sich seinerseits über ein riesiges Absatzgebiet mit konsumjecken Abnehmern seiner vergleichsweise billig hergestellten Waren. Er verdient damit das Geld, das er in der freudigen Erwartung einer saftigen Rendite gleich wieder im Osten von »Chimerika« anlegt. Die chinesischen Währungsreserven belaufen sich inzwischen auf etwa 2500 Milliarden US-Dollar und sind mit Abstand die höchsten der Welt.
Die Amerikaner haben ein ausgeprägtes Interesse daran, dass China mit seinen Kapitaltransfers weiterhin die Defizite ausgleicht und nicht etwa auf die Idee kommt, den Kapitalstrom umzulenken oder versiegen zu lassen. Die Chinesen wiederum sind wachsam darauf bedacht, dass die Werthaltigkeit ihrer US-Anlagen erhalten bleibt und beispielsweise nicht durch eine zur Senkung der Staatsschulden billigend in Kauf genommene Inflation beschädigt wird. Und selbstredend legen sie darauf Wert, dass ihnen die amerikanischen Märkte weiterhin offen stehen wie Scheunentore und sie ihren Warenstrom dank einer unterbewerteten Währung ungestört auf einer phantastischen Flughöhe halten können.
Die Beseitigung der hohen US-amerikanischen Defizite käme einem Paradigmenwechsel gleich, wenn nicht einer Infragestellung des »American way of life«. Die Verringerung der chinesischen Überschüsse würde das Wachstumsmodell des Landes und damit auch seine soziale Stabilität beeinträchtigen. Deshalb werden diese beiden globalen Ungleichgewichte wahrscheinlich fortwirken. Die vier bisherigen Finanzgipfel haben diesen hochprozentigen Cocktail jedenfalls nicht entschärfen können.
Was heißt das nun für Europa? Wir kommen in der chinesischen Berichterstattung von den Finanzgipfeln so gut wie gar nicht mehr vor. Unser Einfluss auf die weltpolitische Agenda schwindet. Aus asiatischer Sicht droht uns die Degradierung auf einen Neben-Schauplatz - allenfalls noch interessant als Einkaufsparadies, wo man sich schmucke Technologieunternehmen zulegt. Treten die Europäer ihrerseits als Investoren in China auf, werden sie an sehr kurzem Zügel geführt.
Europa trägt allerdings zu dem Rollen- und Perspektivwechsel auf der Weltbühne selbst bei. Es ist nicht einfach Opfer globaler Verschiebungen. Es befindet sich vielmehr selbstverschuldet in einer Schwächephase. Die Kombination aus exzessiver Staatsverschuldung und nachlassender Wettbewerbsfähigkeit einiger europäischer Länder macht den Euro erstmals angreifbar. Europa droht in zwei Geschwindigkeiten zu zerfallen. Im Frühjahr 2010 verwies die Krise Griechenlands auf den Geburtsfehler der Währungsunion, die sich eben nicht von allein zu einer politischen Union mit einer koordinierten Wirtschafts- und Fiskalpolitik entwickelt hat. Dieses Versäumnis schlägt jetzt durch.
Die Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000, die Europa innerhalb eines Jahrzehnts zur wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Region der Welt machen sollte, ist mehr oder minder gescheitert - an denselben Webfehlern, die eine wirtschafts- und fiskalpolitische Koordinierung ins Reich der guten Absichten verbannten. Der jüngst vom Europäischen Rat verabschiedeten Wachstumsagenda »Europa 2020« steht dasselbe Schicksal bevor, wenn sich nichts an den Voraussetzungen ändert, um sie durchzusetzen.
Dass von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die Europa eine kräftige Stimme geben würde, um zumindest seine strategischen Interessen in unmittelbarer Nachbarschaft wahrzunehmen, nicht die Rede sein kann, versteht sich da fast schon von selbst. Und es ist wohl auch kein Zufall, dass der Löwenanteil aus dem Budget der EU keineswegs in die entscheidenden Zukunftsfelder Bildung, Forschung und Entwicklung, Technologietransfer,
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