Unternehmen Wahnsinn
100. Geburtstag des Films – und erregen damit bis heute Aufmerksamkeit. Worum geht es?
Das Manifest definiert bestimmte technische und ästhetische Verbote und Vorschriften, zum Beispiel: Schauplätze müssen authentisch sein. Ton- und Filmaufnahmen müssen gleichzeitig erfolgen. Gefilmt werden darf nur mit einer Handkamera. Es ist keine lokale oder zeitliche Verfremdung erlaubt etc. Regisseure, die sich daran halten, werden in die Frühzeit der Filmgeschichte zurückkatapultiert; aber nicht aus nostalgischen Gründen, sondern damit sie wieder substanziell interessante Geschichten erzählen, statt sich mit digital opulenten, aber sinnlosen Nebeneffek-
ten zu beschäftigen und in einem Meer von Raffinessen und Requisiten verloren gehen. Dogma 95 war gegen das technisch hochgerüstete, action-besessene und von Spezialeffekten dominierte Hollywood-Kino gerichtet, gegen seine Effekthascherei und vorhersehbaren Dramaturgien.
Der zentrale Manifestgedanke und das höchste Ziel war, den Figuren und Szenen die »Wahrheit« abzuringen. Wörtlich lautete der »Keuschheitsschwur« am Ende des Manifestes: »My supreme goal is to force the truth out of my characters and settings. I swear to do so by all the means available and at the cost of any good taste and any aesthetic considerations. Thus I make my Vow of Chastity.« 114
Kritiker wie Publikum nahmen diesen Vorstoß weltweit auf. 2008 wurde die Dogma-Bewegung um die Regisseure von Trier, Vinterberg, Levring und Kragh-Jacobsen mit dem Europäischen Filmpreis in der Kategorie »Beste europäische Leistung« im Weltkino bedacht.
Weniger Möglichkeiten, mehr Substanz
Möglicherweise ist das Faszinierende und weit über die Filmwelt hinaus Relevante an Dogma 95 die »Abkehr vom Zwang des Möglichen«, wie der Titel eines Buches zur Rezeption der Dogma-Bewegung lautet. 115 Von Trier und seine Mit-Dogmatiker streichen die vielen Optionen unserer Multimöglichkeitswelt einfach radikal zusammen. Damit erhöht sich zuerst scheinbar der Schwierigkeitsgrad für Kreation und Produktion, schnell aber wird deutlich, dass so die Beschäftigung mit dem inzwischen wie selbstverständlich dazu gehörenden, aber eben auch zeitraubenden Brimborium wegfällt. – Das Eigentliche, die zu erzählende Geschichte und faszinierende, vielschichtige Charaktere, rücken wieder in den Vordergrund. So kann sich ein neuer Realismus entwickeln und die Chancen für Regisseure können wachsen, zum Kern eines Erzählanliegens vorzudringen.
Dass es von Trier und Co. nie um das rein formale Befolgen nostalgischer Spielregeln ging, zeigt der Umgang der Dogma-Regisseure mit dem Manifest in ihren eigenen Werken. Sie nahmen es ernst, aber nicht zu ernst, haben sich nur in wenigen Filmen 116 konsequent an alle Manifest-Gebote gehalten. Die Regeln sind nicht »die Lösung«, sondern ein Schritt im fortgesetzten Prozess der Auseinandersetzung, im Ringen darum, welche »Wahrheit« und welche »Wirklichkeit« es zu zeigen gilt.
»The Five Obstructions«:
Einschränkungen als Kreativitätstreiber
In seinem 2003 in Dänemark erschienenen Film »The Five Obstructions« verarbeitet von Trier das Thema der selbstauferlegten Restriktionen auf so experimentelle wie intelligente Weise.
1967 drehte Jørgen Leth, Mentor und Lehrer von Lars von Trier, den Kurzfilm Der perfekte Mensch , ein Essay über die Konstruktion des modernen Konsummenschen. Ein einfaches, ein einmaliges Meisterwerk, ganze zwölf Minuten lang. Von Trier verehrt diesen Film und seinen Macher. Er bittet Leth aber nun, fünf Remakes davon zu produzieren – nach Regeln, die der Dogma-Begründer aufstellen wird. Jede dieser Regeln stellt ein formales Erschwernis dar, das Leth künstlerisch überwinden muss oder an dem er scheitern kann. Ist ein Film fertig, treffen sich die beiden Regisseure (bei Wodka und Kaviarschnittchen) – und Trier bestätigt oder verweigert die Lösung, die Leth gefunden hat. Wie der Meister, der die Lösung des Koans, die der Schüler bringt, annimmt oder verwirft. Nach jedem fertigen Remake diktiert von Trier noch schärfere Beschränkungen für den nächsten Film.
Ziel ist es, Leth aus einer tiefen Depression zu holen, die ihn zurückgezogen auf Haiti leben lässt. Die Therapie lautet: Stell dich wieder der Herausforderung des Filmemachens. Unter extrem verschärften Bedingungen.
Leth geht tatsächlich aus jeder Aufgabe gestärkt hervor. Kein Hindernis bringt ihn zu Fall, keine Produktionszumutung ist ihm zu viel. Die
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