Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
er jüdischer Abstammung war, und prügelten auf ihn ein. Das Mädchen war die Tochter des Konsuls eines südamerikanischen Landes, und ihr Vater erreichte über die Hamburger Senatsbehörden, dass man ihm eine Art Entschuldigung für den Übergriff auf seine Tochter und ihren Freund zustellte – was immerhin ein wenig mehr Sicherheit für die beiden bedeutete.
Zwei weitere Mitsänger waren allerdings eindeutig jüdischer Abstammung. Sie durften noch in ihrer Wohnung schlafen, mussten aber jeden Morgen nach Neuengamme fahren, in das Konzentrationslager am Rande Hamburgs, wo sie zur Büroarbeit verpflichtet waren. Sie brauchten keine gestreiften Anzüge zu tragen wie die Gefangenen in dem Lager, in dem über die Jahre fünfzigtausend Menschen – Juden, politische Häftlinge, sowjetische Kriegsgefangene – erschossen oder hingerichtet wurden oder schlicht verhungerten. Unsere beiden Freunde erzählten kaum davon, aber manchmal erwähnten sie Gefangene, denen sie bei ihrer Arbeit begegnet waren, etwa eine vom Hunger und von anderen Entbehrungen geschwächte Pianistin aus Warschau oder Lehrer oder Ingenieure, die schrecklich unterernährt seien. Sie fragten, ob wir ihnen für diese Leute etwas zu essen mitgeben könnten. Viel war es ohnehin nicht, was sie hineinschmuggeln konnten – mal ein Viertelpfund Butter, mal ein Stück Wurst oder ein halbes Brot. Wir anderen hatten auch längst nicht alle Nahrungsmittel, die wir gerne wollten, doch bis zum Ende des Kriegs funktionierte die Versorgung immerhin leidlich, eingeschränkt zwar durch Lebensmittelkarten, aber gestützt durch Lieferungen und Pakete der Soldaten an ihre Angehörigen aus den besetzten Ländern West- und Osteuropas. Ich wusste nicht, ob meine Großeltern damit einverstanden gewesen wären, dass ich ein bisschen Wurst oder Butter aus der Speisekammer mitnahm. Also tat ich es heimlich. Meine Großmutter hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, dass sie es für ungut oder gar gefährlich hielt, dass ich einen der Freunde, mit dem ich gemeinsam im Chor sang, bei uns im Gästezimmer übernachten ließ, wenn er den späten Zug nach Bergedorf verpasst hatte. Es sei für unsere ganze Familie gefährlich, einen Juden in unserem Haus aufzunehmen, sagte sie. Aber verboten hat sie es mir nicht.
In unserer Familie wurde nicht über die Judenverfolgung gesprochen, schon gar nicht befürwortend. Mein Großvater hatte die Angewohnheit, Hamburger Großkaufleute, die er nicht leiden konnte, gelegentlich als »weiße Juden« – als besondere Ausbeuter – zu beschimpfen. Da war also ein kritischer Vorbehalt gegen die Juden, aber nun auf reiche Deutsche bezogen. Ich hatte inzwischen gelernt, bei solchen Themen nicht nachzufragen. Meine Großmutter fand ohnehin, dass ich das Maul gefährlich weit aufriss. »Wenn du so weitermachst, dann kommt die SA und nimmt dich mit. Dann musst du ins Lager, und da binden sie dich auf die Pritsche, und du kannst nicht mehr runter, du musst alles unter dich machen«, sagte sie einmal zu mir. Das war zu einer Zeit, als längst viel schrecklichere Lager existierten. Sie sprach noch von den Übergriffen der SA kurz nach 1933. Vielleicht erschien das meiner Großmutter immer noch als das Schlimmste, was uns drohen konnte, vielleicht wusste sie nichts von den großen KZ s, vielleicht wollte sie einfach nichts davon wissen.
Wir hatten eigentlich nur einen in der Familie, den ich für eine Art Nazi hielt: den Bruder meiner Mutter. Er war als junger Rechtsanwalt im März 1933 , gleich nach der Machtübernahme durch Hitler, in die NSDAP eingetreten. Meine Großmutter ärgerte ihn gelegentlich, indem sie ihn »unser Märzveilchen« oder »unseren Märzgefallenen« nannte (ursprünglich eine Bezeichnung für die Toten der Märzrevolution 1848). Mein Onkel war, schien mir, eher ein Opportunist als ein Fanatiker. Einmal, es muss um das Jahr 1943 gewesen sein, wurde er streng mit mir. Sein Sohn, der ein paar Jahre jünger war als ich, hatte mich gefragt, was ein Usurpator sei, ein Wort, das er gerade irgendwo gelesen hatte. »Das ist einer wie Hitler, der alle Macht im Staate an sich reißt«, erläuterte ich. Da unterbrach uns mein Onkel und sagte: »Das ist nicht richtig, Hitler ist kein Usurpator, er ist 1933 von der Mehrheit gewählt und vom Reichstag ernannt worden.«
Zwar hatte er danach erst einmal bei mir verloren, aber dann machte er doch einiges wieder gut: Er war als Verwaltungsoffizier in Italien gewesen und kam mit einem ganz
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