Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
auftrat, wirkten besonders hohl, wenn er an den Sammelstellen für Flüchtlinge redete. Dabei war er durchaus ein guter Organisator bei der Verteilung von Lebensmitteln oder Unterkünften. Das hielten ihm alle zugute, aber für seine politischen Reden war es längst zu spät. Ich hoffte ebenfalls auf das baldige Ende des Kriegs und spürte, dass dies auch unter meinen Freunden die eigentliche, wenngleich unausgesprochene Hoffnung war. Wirklich sicher konnte ich da freilich nicht sein. Als nach dem 20. Juli 1944 die Nachricht vom gescheiterten Attentat auf Hitler kam, war ich erschrocken und verbittert über die Reaktion der vielen Leute, die in dieser Tat nur bösartigen, feigen Hochverrat erkennen wollten und die Hasstiraden der Führer und Unterführer wiederholten. Unter unseren näheren Bekannten wurde das Thema vermieden. Nur ein Junge aus der Nachbarschaft sprach mich darauf an. Er war der Sohn eines Bankiers und konnte gut Englisch, weil er im Ausland aufgewachsen war. In seinem Zimmer hockten wir manchmal vor dem Radio und hörten die Nachrichten und Kommentare der BBC , die er mir übersetzte. Das war gefährlich, und weder er noch ich erzählten unseren Familien davon. Aber wir glaubten fest daran, dass das Kriegsende bevorstand.
Für mich allerdings fing der Krieg gerade erst richtig an. Im Februar 1945 wurde ich zur Wehrmacht einberufen, als Einziger unter meinen Schulfreunden. Andere wurden zur Heimatflak oder zum Volkssturm geholt, ich dagegen gehörte mit ein paar Gleichaltrigen, aber auch mit wesentlich älteren Männern zum letzten Aufgebot der Wehrmacht. Von Kriegsbegeisterung war unter uns nichts zu spüren, als wir in die Kaserne in Neumünster einzogen. Keiner konnte sich erklären, warum es gerade ihn getroffen hatte. Ein Bauernjunge – wie ich sechzehn Jahre alt – vermutete, das sei die Rache dafür, dass sein Vater ein Schwein schwarz geschlachtet hatte. Mir fiel ein, dass mir ein älterer Schulkamerad aus der gleichen Kaserne berichtet hatte, man habe ihn nach der Ausbildung zum Offizier machen wollen. Er sei jedoch kurz vor der Ernennung ziemlich betrunken und einigermaßen auffällig über die Mauer des Kasernengeländes geklettert, woraufhin man ihn zur Strafe als »offiziersunwürdig« eingestuft habe. Bei uns war freilich nicht einmal mehr Zeit für die normale Ausbildung. In Güterwagen verladen, rollte unser Regiment schon bald Richtung Westen.
Wir hatten gebrauchte Uniformen bekommen, aber keine Waffen. Die sollten wir an der Front erhalten, so erklärte man uns, vermutlich den geschlagenen Feinden abgenommen. Die älteren Männer hörten sich das mit unbewegtem Gesicht an, aber kaum waren die Offiziere und Unteroffiziere in ihre Wagen zurückgegangen, da machten sie Witze über die geplante Waffenverteilung. Manchmal sangen sie dann ihr Lieblingslied: »Lieber Gott im Himmel, du da droben, du wirst meine Sehnsucht schon verstehen. Lass mich meine bombardierte Heimat und den Rest der Möbel wiedersehen.« Dann aber kamen wir gar nicht an die Front. Unser Zug fuhr stattdessen ein paar Tage kreuz und quer durch Westfalen, bis wir eines Nachts wieder bei Hamburg auf dem Güterbahnhof standen. Dort wurden die Waggons erst einmal geparkt. Auch die Offiziere wussten nicht, wie und wohin es weitergehen würde. Warten sei das Los des Soldaten, meinte ein Unteroffizier zu uns, und das sei ja nicht das Schlechteste.
Am Rande des Bahnhofs mussten wir antreten, und der Regimentskommandeur, ein adliger Oberst, hielt eine Durchhalterede, die alle schweigend anhörten. Ich konnte diese Parolen jedoch nicht mehr ertragen und wollte nur noch abhauen. Aber wohin? Mich zu Hause bei meiner Mutter und den Großeltern zu verstecken ergab wenig Sinn, da würde man mich zuerst suchen. Am nächsten zum Güterbahnhof lag die Wohnung einer Großtante. Unauffällig verließ ich das Bahngelände, und meine Großtante fütterte mich hocherfreut mit Apfelkuchen, als ich bei ihr erschien. Aber aufnehmen und verstecken wollte sie mich nicht. »Der Krieg kann noch Monate dauern«, meinte sie. »Und wenn sie dich hier finden, bist du dran, und die ganze Familie muss leiden.«
Zurück in mein Regiment wollte ich aber auch nicht. In der Lüneburger Heide besaß unsere Familie ein kleines, abgelegenes Holzhaus. Also riskierte ich die Zugfahrt, mit einer gekauften Fahrkarte, aber ohne Urlaubsschein oder Marschbefehl. Jede Streife hätte mich festgenommen, doch zum Glück kam keine. Das Haus lag still und unbewohnt
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