Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Offenbar dachte er, dass man diesem Splittergrüppchen der Nachrichten- HJ dadurch zu mehr Ansehen verhelfen könnte. Also tat ich ihm den Gefallen und stolzierte gelegentlich mit meiner weißen Kordel umher, wenn es galt, bei anderen HJ -Führern Eindruck zu machen, aber ohne möglichst allzu sehr aufzufallen – ein schwieriger Balanceakt.
Meine Mutter versorgte mich immer mit Lesestoff. Ohne weitere Kommentare brachte sie aus Hamburger Antiquariaten Bücher mit, die nicht politisch waren, aber deutlich aus dem Rahmen der offiziellen national gefärbten Literatur fielen: Manfred Hausmanns Kleine Liebe zu Amerika , Hans Leips Jan Himp oder Fritz Steubens ganz unsentimentale Bücher über die Indianer und die Vernichtung ihrer Kultur. Warum sie solchen Lesestoff für mich aussuchte, erklärte sie mir nicht. Ich verbrachte sehr viel Zeit auf dem Dachboden im Haus meiner Großeltern. Dort standen etliche Kartons und Kisten mit Büchern aus den zwanziger Jahren. Ich schmökerte in dicken Bänden mit gesammelten Illustriertenausgaben, und auch an einige politische und staatsrechtliche Bücher wagte ich mich heran, wobei ein rechtsphilosophisches Werk von Gustav Radbruch über die staatspolitische Bedeutung einer Verfassung mich besonders in Bann zog. Da tat sich eine politische Landschaft auf, deren Begriffe von Recht, Staat und Verfassung mich faszinierten, ja begeisterten, obwohl ich sie nur zum Teil verstand. Meine Großmutter, so fand ich durch eine der Kisten heraus, hatte früher kleine Gesellschaften von Frauen geleitet, deren Männer zu einer Freimaurerloge gehörten. Aber das war nichts, worüber sie mit mir sprechen mochte.
In der Molkerei meines Großvaters lernte ich eine Polin kennen. Sie war, wie sich herausstellte, in Warschau an der Universität Dozentin für deutsche Literatur gewesen und als Zwangsarbeiterin nach Deutschland deportiert worden. Offenbar machte es ihr Freude, mit einem jungen Deutschen ins Gespräch zu kommen, der sich ernsthaft für Literatur interessierte. Sie wollte gerne etwas von Hamburg sehen, nicht nur den Weg zwischen Fremdarbeiterunterkunft und Molkerei. Ich holte ihr einen Mantel meiner Mutter, damit sie weniger auffällig aussah, und so gingen wir, in Gespräche vertieft, im Zentrum von Hamburg spazieren. Da entdeckte ich dann eine Art satirischer Literaturkritik, der ich in Büchern noch nicht begegnet war. »Der Hauptmann«, sagte sie über eine Büste des damals staatlich verehrten Großdichters Gerhart Hauptmann, »sieht aus, wie wenn der Goethe ein Arrrschloch gewesen wäre.«
Inzwischen hatte ich auf dem Umweg über die Musik einen kleinen Kreis von Freunden gefunden. Zunächst im Kirchenchor, wo besonders die vorbarocke Musik gepflegt wurde, deren Ernst mich ergriff. An manchen Abenden traf sich eine Gruppe von jüngeren Leuten zu Hause bei der Organistin und Chorleiterin, um zu singen und, mehr noch, um zu diskutieren. Gleich am ersten Abend erlebte ich, wie sich das Gespräch Richard Wagner zuwandte, dem Lieblingskomponisten des Führers. Wagners Opern galten als gewaltige Verkörperungen echter deutscher Ideale. In dieser Runde aber holte einer Nietzsches Schriften aus dem Bücherschrank der Organistin und begann dessen Verurteilung Richard Wagners und seiner Ideologie zu zitieren. Die Unterhaltung, die scheinbar über Kunst und Oper geführt wurde, bekam einen doppelten Boden, denn indirekt wurde Kritik an Hitlers Kunstverständnis geübt. So vorsichtig das Gespräch geführt wurde, zog es mich doch tiefer in diesen kleinen Kreis von zehn, elf Freunden.
Später merkte ich, dass einige der neuen Freunde jüdischer Abstammung waren. Die Organistin etwa hatte entfernte jüdische Vorfahren, musste aber keinen Judenstern tragen. Sie ließ ihre Mutter trotzdem nicht auf die Straße gehen, weil sie fürchtete, Nachbarn würden, wenn sie die alte Frau sahen, gegen sie und dann auch die Tochter vorgehen. Zwei der jungen Männer in unserem Kreis hatten ebenfalls einen jüdischen Hintergrund, sie waren nicht offiziell klassifiziert als Juden oder Halbjuden, lebten aber doch ständig in Bedrohung. Den einen, ein gutaussehender blonder Mann von zweiundzwanzig Jahren, hätte ein absurder Zufall beinahe ans Messer geliefert: Als er mit einer schwarzhaarigen, etwas dunkelhäutigen jungen Frau auf dem Jungfernstieg spazieren ging, stellte ihn eine Patrouille der Hitlerjugend. Warum er mit dieser Jüdin herumlaufe? Sie fanden schließlich heraus, dass nicht das Mädchen, sondern
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