Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
im Wald, der Schlüssel war hinter der Regenrinne versteckt. Ich schlüpfte hinein, ohne das Licht anzumachen. Am nächsten Tag würde ich weitersehen. In einer der Schlafkojen zündete ich die kleine Petroleumlampe an und fand ein altes Buch. Esch oder die Anarchie hieß es, verfasst von Hermann Broch, und darin fand ich Sätze, die mich im Innersten trafen. Da schrieb einer über den Ersten Weltkrieg: »Hat dieses verzerrte Leben noch Wirklichkeit? … Die pathetische Geste einer gigantischen Todesbereitschaft endet in einem Achselzucken – sie wissen nicht, warum sie sterben … Eine Zeit, feige und wehleidiger denn jede vorhergegangene, ersäuft in Blut und Giftgasen, aber für unser Einzelschicksal können wir mit Leichtigkeit einen logischen Motivenbericht liefern. Sind wir wahnsinnig, weil wir nicht wahnsinnig geworden sind?« Ich las die ganze Nacht. Ein Klopfen an der Tür weckte mich. Draußen stand ein freundlicher älterer Herr, der in einer Feriensiedlung auf der anderen Seite des Waldes lebte. Sie war einige Jahre zuvor von Anthroposophen gegründet worden. Am Abend vorher habe er ganz überrascht einen Funken Licht gesehen und wolle nun vorbeischauen. Er war bestimmt keiner, der mich verraten würde, aber eines war klar: Sicher würde ich auch hier nicht sein. Ich dachte, das Beste wäre es wohl doch, wenn ich unauffällig in die Güterwagen meiner Einheit zurückkehren könnte.
Und tatsächlich schaffte ich es. Als ich am Nachmittag auf dem Güterbahnhof möglichst zielstrebig, aber auch vorsichtig zum Wagen mit meinen Kameraden ging, hielt mich ein junger Leutnant an und wollte wissen, woher ich käme. Noch ehe ich antworten konnte, fuhr er fort, ich solle in den Kompanietrupp eingegliedert werden, eine kleine Gruppe mit Sonderaufgaben. Ich sei ja aus der Nachrichten- HJ , und sie bräuchten noch einen Funker. Ich konnte zwar nur ganz schlecht mit einem Funkgerät umgehen, aber das Angebot nahm ich natürlich an. Später stellte sich heraus, dass der Leutnant ein Reserveoffizier aus Hamburg war, ein junger Rechtsanwalt, der meinen Onkel kannte.
Als schließlich unser Zug nach Norden über die dänische Grenze rollte, war das Schlimmste für mich erst einmal vorbei. Im allgemeinen Durcheinander der letzten Kriegswochen war das Regiment auseinandergerissen worden: Zwei Bataillone fuhren Richtung Ostfront, wir hingegen kamen nach Dänemark, »das Land der Butter und der Schlagsahne«, wie die älteren Kameraden wussten. Das hob die Stimmung ein wenig. Dann allerdings rollte unser Zug über eine kleine Landmine, die dänische Widerständler gelegt hatten. Die Wagen blieben weitgehend unversehrt und wir konnten die Fahrt fortsetzen, aber ich hatte infolge der Explosion blaue Flecken und einen verstauchten Fuß. Nahe der jütländischen Stadt Vejle wurden wir in Schulen und Scheunen untergebracht. Dort herrschte dann Dienst wie üblich, Marschieren und Exerzieren, immer noch so gut wie ohne Waffen. Einmal gab es einen Zwischenfall, ein paar Soldaten waren auf einem Bauernhof in die Speisekammer eingebrochen und hatten geklaut. Zwei Offiziere ermahnten sie: Jetzt, wo der Krieg praktisch zu Ende sei, sollten wir uns nicht noch mehr Feinde machen.
Und tatsächlich: Der Krieg war vorbei. Mit drei Pferdewagen machten wir uns auf den Rückmarsch durch halb Jütland; irgendwie war es unseren Offizieren in Verhandlungen mit den Widerständlern gelungen, dass wir aus Dänemark abziehen konnten. Nach ein paar Tagen erreichten wir die deutsche Grenze. Die Offiziere meldeten sich bei den englischen Kommandanten und kamen mit einer verwirrenden Information zurück: Wir seien von nun an Kriegsgefangene, und unser Lager sei Schleswig-Holstein von der dänischen Grenze bis zum Kaiser-Wilhelm-Kanal bei Rendsburg.
Wir hockten am Straßenrand. Die Engländer hatten zwei große Lautsprecher aufgestellt, die den deutschen Dienst der BBC übertrugen. So hörten wir einen langen und schrecklichen Bericht über die Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, über das Massensterben, über Zehntausende von Toten und Verhungernden, die die englischen Soldaten dort vorgefunden hatten. Ich saß dort und konnte nur noch heulen. Ein älterer Feldwebel kam zu mir und fragte, was denn los sei. Ich deutete auf den Lautsprecher und brachte nur die Worte »Bergen-Belsen KZ « heraus. »Hast du da Verwandte drin?«, fragte der Feldwebel. Als ich den Kopf schüttelte, meinte er nur: »Na, dann ist es ja nicht so schlimm, dann
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