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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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ungewöhnlichen Geschenk zurück, einem Buch von Ernest Hemingway, das in deutscher Sprache gerade erst in Stockholm erschienen war und das er in Rom für mich gekauft hatte. Wem die Stunde schlägt erzählt von einem jungen Amerikaner und einer Gruppe von Partisanen im Kampf gegen Franco, den faschistischen Herrscher Spaniens. So etwas hatte ich bis dahin noch nicht gelesen. Vom Bürgerkrieg in Spanien war bei uns nur Heldenhaftes über Francos Faschisten und ihre deutschen Unterstützer berichtet worden und nur Böses über ihre grausamen Gegner, die Kommunisten. Was ich nun in Hemingways Roman las, fand ich mitreißend und erschütternd, und dass ausgerechnet mein Onkel, der »Märzgefallene«, mir das Buch aus Italien mitgebracht hatte, ließ mich daran zweifeln, ob er wirklich ein richtiger Nazi war.
    1943 war der Sommer der großen Luftangriffe. Sie veränderten unser Leben einschneidend. Schon vorher hatte es immer wieder Fliegeralarm gegeben und viele Berichte über einzelne Bombenangriffe, zerstörte Häuser oder Fabriken. Aber irgendwie hatten wir uns an solche Meldungen gewöhnt, wenn sie uns von anderswo erreichten – als angebliche Gerüchte, die nicht verbreitet werden durften. Es war zunächst eine mehr abstrakte Gefahr, die einen selbst nicht betraf. Dann donnerten Ende Juli 1943 die britischen und amerikanischen Bomber heran, Welle um Welle. Ganze Stadtviertel brannten, Zehntausende von Menschen flüchteten in die Orte des Umlands, ein Gefühl totaler Hilflosigkeit griff um sich, dem auch die Organisatoren und Propagandisten der Partei nichts entgegensetzen konnten.
    Nach der ersten Bombardierung war mein Großvater in die Stadt gefahren, um zu sehen, ob es seine Molkerei getroffen hatte. Zwei oder drei Angriffe später, als es keine Telefonverbindung mehr gab, fuhr auch ich schließlich mit zwei Flaschen Mineralwasser, einem Stück Mettwurst und einem Regenmantel auf dem Gepäckträger mit dem Fahrrad nach Hamburg hinein. Immer mehr Flüchtlinge strömten mir entgegen. Dann kamen Rauchwolken und abgebrannte, oft noch glimmende Häuser. Am Straßenrand lagen Verletzte, die meistens schon von Sanitätern versorgt worden waren. Nicht weit vom Hauptbahnhof fand ich neben ein paar qualmenden Ruinen meinen Großvater in der Molkerei. Sie war beschädigt, aber zum größten Teil erhalten. Die ganze Nacht über hatten die Arbeiter die Einschlagstellen der Brandbomben zu löschen versucht. Als das Wasser ausfiel, gossen sie Milch in die Flammen und schworen später, Buttermilch sei das Beste gegen Phosphorbomben. Die Stimmung unter den Männern war bedrückt. Viele warteten auf Nachricht von ihren Familien und wussten nicht, ob ihre Wohnungen zerstört waren. Einer fing an, auf die mörderischen Briten zu schimpfen, aber die anderen stimmten nicht ein und hörten nur mürrisch zu. Über den Krieg wurde kaum gesprochen, schon gar nicht über die Siegesversprechen von Partei und Regierung. In den ersten zwei Tagen verzichteten auch die örtlichen Parteifunktionäre auf ihr Gerede vom Durchhalten und vom Sieg und gaben sich lieber als Organisatoren von Hilfsmaßnahmen für die verzweifelten Menschen.
    Ich fuhr in ein anderes Viertel, wo ich die Stadtwohnung meiner Großeltern suchte: Das Haus war ausgebombt und abgebrannt, eine Nachbarin stocherte in den Trümmern. Sie müsse den Kellereingang freimachen, sagte sie. Unter dem Schutt lägen ihre ganzen Vorräte, Decken und Kleider und alles andere, was gut und knapp sei. Ich half ihr, Steine zur Seite zu legen, aber die Arbeit war zu schwer für uns. Mit zwei Leuten aus der Molkerei fing ich am Abend noch einmal an. Die Männer räumten auch die Tür zum Keller meiner Großeltern frei, und gemeinsam beluden wir einen Handwagen mit Konserven und Eingemachtem, das nun durch die Brandhitze zum zweiten Mal gekocht war, wie einer der Helfer bemerkte. Aber das war uns egal, alles Essbare war wertvoll. Als ich dann mit meinem Großvater allein war, sank er auf einem Stuhl zusammen und sagte: »Das war ja nun das Ende.« Er habe von Anfang an gewusst, dass der Krieg verloren sei, spätestens seit Beginn des Russlandfeldzugs. Und überhaupt, der ganze Zauber mit dem Dritten Reich habe ja schlimm enden müssen. Dann stand er auf und schaute draußen nach, was noch getan werden konnte.
    Alle, die ich kannte, warteten auf den Einmarsch der Engländer, der das Ende des Kriegs bringen würde. Die Durchhalteparolen, mit denen der Ortsgruppenleiter der NSDAP gelegentlich

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