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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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die hohen Fenster gegenüber und fragte sich, ob die Feuerleitern, jene dunklen Linien, die sich in der Tiefe über den Seitenstraßen kreuzten, ihr wohl etwas über ihre Arbeit sagen könnten.
    »Ja ja, Kindchen, und morgen kommt der Weihnachtsmann«, sagte Acey in der Bar.
    Eine Zeitlang benutzte sie Anstrichfarbe, Heizungslack. Sie mochte rauhe Oberflächen, abblätternden Lack auf Metall, sie mochte verkittete Fensterrahmen, jegliche Gipstextur, die klebrigen Kreiden und Leinsamen, die vermischt und zu einem Schmirechz auf einem verwitterten Stück Holz verschmiert werden. Und sie brauchte Jahre, um zu begreifen, in welchem Zusammenhang das mit ihrem Leben stand, mit ihrer proletarischen Seite, mit den rissigen Bürgersteigen, eigentlich wunderschöner blauer Schiefer, brüchig und bröselig an den Ecken, und mit den geteerten Dächern und den Feuerleitern natürlich, erst grün gestrichen und dann schwarz, und wie die heruntertropfenden Kleckse und Rinnsale sich in die Erinnerung fügten, und die Aluminiumfarbe auf den pfeifenden Heizkörpern und der Lack, den ihr Vater heimbrachte, um die Küchenstühle neu zu streichen, ein Stuhl kopfüber auf einem Blatt Zeitungspapier, und die Spinnwebpfützchen der weißen Farbe auf der Druckerschwärze der Seite und das bespritzte Papier auf dem alten Linoleum.
    Bei Esther und Jack hatte sie ein Glas Wein in der Hand und hörte Jack zu, der mit seiner freundlichen Sandpapierstimme redete. Sie mochte seine Stimme, und sie mochte seine Witze. Der alte, rotbackige, grauhaarige Jack, irgendwie immer noch am Leben, mit seiner Zigarette fuchtelnd und immer kurz davor, deinen Namen zu vergessen Jack hatte einen starken Hang zu derben Witzen, die Esther haßte und Klara irgendwie gut leiden mochte, die Sorte Witze, die man trotzdem lustig finden soll, altmodische Geschichten mit dämlichen Stereotypen und verschiedenen Dialekten, aber gerissen in der Art und Weise, wie sie den Zuhörer gern zum Komplizen machten – Jack erzählte Witze, bei denen sich nie etwas änderte.
    Irgendwann merkte sie, daß sie hauptsächlich deshalb Farbe auftrug, um sie wieder herunterzunehmen, mit einem Küchengerät abzukratzen – sie mochte die marmorierten Überreste.
    Und die Reichweite ihrer Bemühungen, ihr geringer Ehrgeiz, was sich ihrer Meinung nach in ihrer Arbeit häufte, etwas Vertrautes, bewußt bescheiden. Erst jetzt fing sie an, sich zu fragen, ob sie sich ein Leben ohne Lorbeeren sichern wollte, wie ihr Vater.
    Albert hatte ihr immer in seiner leicht belehrenden Art erklärt, daß die Italiener, denen er durch seine Jugend in Hadem und der Bronx, durch seine kalabrische Herkunft begegnet war, dazu neigten, einer bestimmten Art von Erfolg mit Mißtrauen zu begegnen, als Einwanderer, Menschen, die einen Schutz gegen die Kälte der anderen Kultur brauchten, Menschen, die Söhne und Töchter und Schwestern und andere brauchten, denn wem konnten sie sonst trauen mit ihrem gebrochenen Englisch, ihren zehntausend entwurzelten Legenden, und eines Tages kam er nach Hause, der dreizehnjährige Sohn, und sah seine Eltern zusammengekauert auf dem Sofa, in einem ihrer schmerzvollen südländischen Zustände, dunkle Säcke unter den Augen seiner Mutter, ausgetrocknet vom Betrogenwerden, und sein Vater hilflos und gebrochen, ein vierzigjähriger Mann, der sein Alter durch die Mitgliedschaft in einer Kooperative des Kummers im Nu verdoppeln konnte, und sie schauten sich Alberts Zeugnis an, das gerade per Post von der Schule eingetroffen war, und er dachte, er hätte alles verpatzt, wäre von der Schule geflogen, verwiesen, hätte bestenfalls Fünfen und Teufelszahl-Sechsen, aber es war genau das Gegenteil, jawohl, eine Reihe Einsen mit goldenen Sternchen, die am Rand des Zeugnisses klebten, und Jung-Bronzini begriff irgendwann, woher ihre Verzweiflung kam, sie wollten ihn nicht verlieren, der Ladenbesitzer und seine Frau, an die große helle Welt, die irgendwo, schwebend, nur wenige Blocks entfernt begann.
    Klara fand, sie hatte nicht im entferntesten etwas mit diesem Geisteszustand zu schaffen, bis sie allein in ihrem Loft saß und begriff, wie abwehrend sie gewissen Erfolgen gegenüberstand, nicht denen der anderen, sondern ihren eigenen – mißtrauisch und leicht beschämt. Sie mußte der Vergangenheit treu bleiben, selbst wenn das bedeutete, vor allem wenn das bedeutete, die Enttäuschungen ihres Vaters auf sich zu nehmen, in den vielen kleinen Niederlagen aufzugehen, die er wie verblaßte

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