Untitled
schönsten Bewegungen mit ihren Händen – Anmut, das war wieder eins von diesen Worten, deren Verwendung mir erst möglich wurde, als ich Julia kennengelernt hatte. Auch auf dem Bild würde ihre rechte Hand eine dieser anmutigen Gesten bewahren. Und zwar eine, die ich für einmalig befand, ich hatte sie noch nirgendwo anders, nicht an einer Statue, nicht an einem Model so gesehen: Die Hand lag mit der Innenseite nach oben geöffnet in der Luft. Der kleine Finger ragte aufgerichtet und um etwas weniger als senkrecht in die Höhe. Der Ringfinger (ohne Ring) legte sich in einer weiten Kurve hintüber, der mittlere ragte als Tangente daraus hervor, untermauert vom Zeigefinger, der hier am längsten erschien, dort war auch die Art ihrer Maniküre zu erkennen: ein schlichter weißer Umkreis der Fingerspitze, geformt von der Ausklappschere ihres Taschenmessers. Der Daumen schmiegte sich im ersten Glied an die Handseite in die Fingerbeuge hinein, das oberste Glied bog sich, dem Betrachter entgegen, in den Motivraum. Sollte ihre andere Hand auf den Plotinband weisen? Das wirkte scheußlich plakativ. Was triebe ich selbst eigentlich in dem dargestellten Augenblick? Schaute ich sie an, oder: das Buch? Oder den Betrachter? Das auf keinen Fall. Ich neigte mich etwas zu ihr, um besser verstehen zu können, was sie mir zu sagen hatte. Meine dem Bild abgewandte Schulter wies gen Regal. Trotz des etwas schief gehaltenen Kopfes schaute ich ihr in die Augen. Die eigene Nase gelang mir aus Zufall. Davor hatte ich mich regelrecht gefürchtet – und: gar nicht übel, dachte ich (und hörte dabei die Stimme Hermann Lenzens). Ich bekamganz schöne Pranken im Vergleich – äußerte sich darin mein liebender Blick? Die Silhouette Julias war mir derart vertraut, dass ich angesichts größerer Menschenansammlungen – an Zebrastreifen etwa, in Kaufhäusern – ständig zusammenschrak, weil ich hier oder dort Julia zu entdecken geglaubt hatte. Es war die Silhouette, dann ihr dunkler Blick, die Hand. Durch Julias Körper verlief ja eine modernisierte, aber nach wie vor sich vom Scheitel bis auf Fußsohlenniveau windende Line of Beauty and Grace. Die Proportionen waren perfekt und wirkten angesichts Julias zarten Wuchses beinahe schon irritierend. Man konnte sie nie wieder vergessen – allein von ihrem Anblick her. Ich hatte Situationen mit ihr erlebt, da waren wir in wüste Gesellschaft geraten, aber kaum wurden die Leute dort ihrer ansichtig, legten sie Umgangsformen an den Tag. Die Männer stellten sich aufrecht hin. Mancher wandte sich von seinem Gesprächspartner ab, weil er nun nichts mehr mit dem zu tun haben wollte. An einem Nebentisch in der Pizzeria kopierte die Frau Julias Art zu salzen, es hatte nur Minuten gedauert, dann war ihr das Vorbild eingesunken. Wenn wir in einem Lokal saßen und es setzten sich spontan Freunde von ihr an unseren Tisch, wurde sie ganz aufgeregt. Unter dem Tisch musste sie mich dann immer heimlich kneifen – ob ich auch wirklich da war? Bislang hatte ich in dem Buch der Pirelli-Tochter diese Stelle subtil gemein gefunden, wo sie ihren Vater beschrieb, wenn der zeichnete und seine Kinder den Atem anhielten dabei. Aber bei mir war das auch so: wenn Julia etwas sagte, wenn sie sich mir zuwendete, hielt ich den Atem an.
Zwei Wochen lang verbrachte ich jeden Tag damit, unsere Körper zu malen. So kam ich in den Luxus, unser Aktbild in sämtlichen Details der Lichtführung ausarbeiten zu können. Das wurde ein wunderschönes Bild: Julia und ich,nackt, vor dem Bücherregal. An unseren Blicken, an Julias Handhaltung änderte das nichts. Das Erinnerungsbild gab dunkle Kleidung vor, also rieb ich Lapislazuli auf der Glasplatte für Ultramarin. Maxim und Katja hatten den Kontakt hergestellt zu einem Farbenhändler in Nizza, bei dem ich auf Rechnung an die Adresse in Cagnes-sur-Mer meine Materialien beziehen durfte. Das Schneckenpurpur, das ich für Julias Lippen verwendet hatte, war überraschend teuer. Es wurde tatsächlich noch aus den Häuschen der Purpurschnecken gewonnen, die man im Pochwerk zerkleinerte und dann zerrieb. Das Gramm fünfhundert Mal so teuer wie Kokain. Mit der Rasierklinge schob ich mir daraus eine Straße zurecht und schickte das Bild an Julia – Lustig! Was machst du da?
Die Hautfarben mischte ich aus dem japanischen Weiß, das aus den jahrelang gelagerten Schalen von Austern gewonnen wurde. Der Preis zog seit Fukushima streng an, der einzige Hersteller weltweit, ein Familienunternehmer,
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