Untitled
sagte: Macht doch nichts. Und ich folgte ihr. Während sie sich hinsetzte, knipste sie an ihrem Salontischchen das Licht an und öffnete dort die Schublade gerade so weit, dass ich auf einen Blick erhaschen konnte, was darin lag: eine exakte Nachbildung des Eispickels aus Basic Instinct. Sie lachte schrill auf: Was guckst du denn so bescheuert? Wer dann noch konnte, der war wohl tatsächlich scharf auf sie. Das war wenige Stunden nach der Fahrkartenkontrolle gewesen, als der Schaffner mich aufforderte, die Sonnenbrille abzunehmen, und ich mich geweigert hatte – genügend Interkontinentalflüge auf den Toiletten verbracht, bis geklopft wurde von einem sogenannten Air Marshall; genug geheult. Ich dachte an Selbstmord. Aber nur kurz.
Als ich in Marseille aus dem Zug stieg, bloß um herauszufinden, dass heute Abend keine Küstenbahn mehr fahren würde, trat ich auf die Terrasse über dem Vorplatz und der Himmel zeigte sich in seinem dunkelsten Blau von allen und da hinein bluteten die orangefarbenen Straßenlaternen und um die Krone einer Palme hatte sich eine grünliche Aura gebildet. Ich roch die Luft, ich spürte das Meer und hörte die Autos, die einen anderen Lärm machten. Alles was ich jemals in Frankreich erlebt oder gefühlt hatte, war auf einmal wieder da. Ein Shazam für Städte brauchte es nie zu geben, das waren wir selbst. Und ich merkte: Dir vibrieren ja die Knie.
Mit einer Pinselspitze, deren schmale Form als Katzenzunge bezeichnet wurde, schob ich eine geringe Menge der hautfarbenen Pigmentmischung zu einem Kegel zusammen, um daraus Julias Nase modellieren zu können. Ich würde die Figuren Detail für Detail auf der Leinwand zusammensetzen, nicht Schicht für Schicht. Davon versprach ich mir jenen seidigen Ministeck-Effekt, den ich auf Vermeers Bildern erkannt haben wollte. Julias Nase war wichtig, ich bildete mir ein, ihr sprichwörtlich an der Nasenspitze ansehen zu können, was sie vorhatte. Julias Nasenspitze war ein Fixpunkt, von dem aus ihr Mienenspiel gesteuert schien. Ebenso wichtig: Ihr Blick. Der Gesichtsausdruck sollte exakt zwischen dem Lachen über einen Scherz und der Aufnahme des nächsten Themas eingefangen wirken. In jenem Augenblick, da die Muskulatur des Gesichtes sich entspannte, sie plötzlich wieder ganz jung aussah. Offen wie ein Kind. Die Augen groß und rund. Und mit einemBlick darin, der aufforderte, weiterzumachen. Ja nicht aufzuhören damit. Weil hier gerade ein neues Leben begann.
Die damals kurz geschnittenen Haare ihres Scheitels waren ihr über die Stirn gefallen. Darunter verlief beinahe parallel ein Wangenknochen. Ich wusste genau, wie ihre Haut dort roch. Und dass sie ein ganz kleines bisschen flaumig dort war. Ich sah die Geschwindigkeit vor mir, mit der ihre Wimpern schlugen. Ich sah ihr Gesicht, halb verdeckt vom Kissen, neben mir liegen. Wie sie mich anschaute. Und was ich in ihren Augen alles sah. Die Lippen verliefen aus einem purpurfarbenen Ton heraus in ein volles Rosa. Ich überlegte mir das mit dem hervorblitzenden Goldzahn. Darunter das weiche Kinn, das dennoch eine so klare Form bekommen hatte. Julias Gesichtsform, die ein schmales Oval, zugleich aber kantig war – schwer zu beschreiben, deswegen ja: malen –, wurde wesentlich durch die Form ihrer Kinnpartie bestimmt. Die Spitze ihres Kinnes war von mir zum zweiten Zentrum ihrer Mimik bestimmt worden. Julia deutete damit in die Landschaft, während sie etwas ausführte. Julia reckte mir das Kinn um wenige Grade entgegen, wenn sie eine Antwort von mir erwartete; bis die dann kam. Eine knappe Versöhnung markierte sie mit einem Na gut, das von ihrem wölfisch nach schräg oben geführten Kinn unterstrichen wurde. Wenn sie die Namen der Teilnehmer an einer Party aufzählte, verfolgte sie mit ihrem Kinn ein imaginäres Wagenrennen. Sie hatte mir so oft über die Wange gestrichen mit diesem süßen Kinn für ein: Bitte bleib bei mir – ich weiß doch, es ist sehr schwer. Sehr sehr. Bei der Erinnerung spürte ich ihre Hände in meinem Nacken. Julias Hände waren ungewöhnlich schmal mit langen Fingern, die sehr viel Kraft ausüben konnten. Das war ihnen nicht anzusehen. Julias Finger sahen aus wie das famose Zartgemüse aus der Dose. Es gab dereraber bloß zehn. Ihre Haut war wie die meinige gut pigmentiert und ebenso außergewöhnlich zart. Auf den Handrücken nicht eben rau, aber in helle Rauten segmentiert, was ich mächtig anziehend fand. Julia erzählte mit viel Gestikulieren, dabei machte sie die
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