Untitled
Taubenkrallen in der Dachrinne über dem Küchenfenster, des Streites auf der Straße, wie der Mittagswind roch, der Färbungen des Sonnenuntergangs: all dies wollte ich aber liebend gerne nicht allein, sondern mit ihr gemeinsam erleben, zumindest besprechen dürfen. Warum machte man das? Hinsichtlich einer gemeinsamen Zukunft. Die Welt entdecken, auf der ein Leben zu zweit stattzufinden hätte.
Eine Zeit lang schrieb ich ihr physische Briefe. Aus Papier. Aber dann hatte Frederick davon Wind bekommen und dann war das keine gute Idee mehr. Weil er dies eine Mal vor ihr am Briefkasten angekommen war. Seitdem knickte er schon ein, wenn sie sich der Haustüre näherten.
Julia saß an einem Platz unterhalb des Fensters mit den gelben Gardinen neben dem Bett. Als das Telefon klingelte, leuchtete das Display hell in dem Schatten. Ich war dran und ihre Stimme klang deutlich und klar. O wie schade. Nein, leider nicht – ich kann hier gerade nicht weg. Ja, mach das. Bis bald, bis bald – die Abschiedsworte hatte sie geflüstert. Dann das Telefon wieder hingelegt. Den lila Wollstoff, auf dem sie saß, mit flachen Händen glatt streichend. Gewartet. Zu nichts fähig gewesen. Nichts gelesen. Keinen Satz fertiggebracht. Francis Bacon, kein Vermeer.
Julias Geheimnis war nicht einfach zu beschreiben. Noch nicht einmal als ein Geheimnis selbst, denn ichglaubte nicht, dass Julia selbst es durchschauen konnte. Sie war einfach so. Aber vermutlich war es das, womit sie mich und vermutlich halt auch Frederick anziehen und in einer Schwebe bewahren konnte: Dass ihr Nein niemals endgültig war, sondern nur eine neue Phase einläutete in unserem Beziehungsspiel. Dass wir insgeheim alle wussten, dass es immer weitergehen würde. Wer beim Jonglieren auf seine Hände sah, dem fiel alles hin.
Karl Lagerfeld hatte einmal zu mir gesagt: Immer Ja sagen. Es ist viel einfacher, Ja zu sagen, als Nein. Wenn Julia Nein sagte, dann machte sie gleichzeitig eine Miene, die besagte: Komm bitte mit! In eine Zeit, in der Wunden heilen konnten und wir zwei aufs Neue zueinanderfinden. Wo wir dann fasziniert beobachten konnten, wie aus den Versöhnungsworten allmählich zarte Ranken zu sprießen begannen, die tastende Anfänge wagen sollten. Wie aus Ermutigungen ein sanftes Hinüberhangeln wurde, woraus sich dann endlich wieder alles ineinanderschlang. Einklang: ein wunderschönes Wort. Wir waren zu Liebesforschern geworden.
Einmal begegneten wir uns zufällig, da stand ich mit dem Rad an der roten Ampel und sie rief mir zu, was ich mit meinem Tag denn noch vorhatte. Dazu fiel ihr darauf noch etwas ein, aber die Passanten drängten voran und ich sah, wie Fredericks Arm sie behutsam voranschob in Richtung der anderen Straßenseite. Mit einer Begründung, die sie erst nach Monaten verriet: Er war sich blöd vorgekommen.
Ich konnte verstehen, was er damit meinte. Mir ging das nie so. Wenn ich Julia traf, dann war es, als ob da ein Film liefe, in dem es nur um uns beide ging. Alles andere war dann nur für uns da, in diesen Momenten. Und es waren die einzigen Male, dass ich mich eins fühlen durfte mit der gesamten Welt. Ein wahnsinniges, ein süchtig machendesGefühl. Wenn die Sehnsucht dieser leere Wunsch war, als den Kant sie definiert hatte, dann verstand sich Julia auf unübertroffene Weise darin, diesen Wunsch mit Liebe weit und leer und freundlich zu gestalten, sodass er schließlich alles enthielt, an das ich nur denken konnte. Alles unbedingt und mit Julia: das war mein Wunsch.
Ich erinnerte mich an die Begegnung im TGV , da hatte ich mich während der Fahrt durch das Burgund an die Kaffeebar gestellt. Ich beobachtete den Kellner, den man in einem Sandalenfilm als Glöckner besetzt hätte. Neben mich war eine Frau getreten, die ihren kurvigen Körper mit einem eng anliegenden Kleid aus Tweed bekleidet hatte. Der ärmellose Schnitt ließ ihre bloßen Arme sehen, die Haut war rosig, das Kleid ansonsten hochgeschlossen, sie trug einen karottenroten Swingbob – grüne Augen, natürlich. Ihre Brüste spannten den Tweedstoff zwischen zwei spitzen Kegeln. Mit dem linken, das bekam ich aus dem Augenwinkel mit, stieß sie den Pappbecher um, in dem der Glöckner die Rührstäbchen vorrätig hielt. Ich half ihm beim Einsammeln. Sie schaute mich an. Wir redeten, wie es heißt: während des Austrinkens zweier kleiner Kaffeebecher lang. Ich weiß nicht warum, aber ich behauptete auf ihren Kommentar zu einer Kekssorte hin, dass ich verheiratet sei. Sie zahlte,
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