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Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
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Donga Stick anfertigen lassenaus Karbongeflecht, der die physischen Eigenschaften jenes nordafrikanischen Holzes wiedergibt. Sie hat eine Zeit ihres Lebens in Äthiopien gelebt. Bei den Surma, einem Stamm dort im Süden und in Addis Ababa. Sie reckt ihren zierlichen Arm und fordert mich auf, ihre Muskulatur zu befühlen: wie Stein, da hat sie schon Recht, aber warum erzählt sie mir das? Ich habe plötzlich eine große Furcht davor, dass sie mich verführen will. Es erscheint mir nicht nur zu früh, ich habe vor allem diese alte Angst, sie dadurch zu verlieren.
    Sie muss gehen, dieses Mal mit der S-Bahn. Ziemlich wahrscheinlich bin ich deswegen noch nie zuvor einem Philosophen begegnet – ich meide öffentliche Verkehrsmittel. Den Aufgang zur S-Bahn fotografiere ich. Daraus wird bald eine ganze Batterie von Fetischismen und Transitional Objects entstanden sein, denn was ich noch nicht weiß: so häufig, so intensiv, auf eine Weise auch: unschuldig oder unbeschwert werde ich Julia Speer, eindeutig meine große Liebe, eine Personifizierung des Glücks also, auf die so viele Menschen, Millionen wahrscheinlich, ihr Leben lang vergebens warten müssen, nie wieder sehen. Ich werde mich also, was ich nie für möglich gehalten habe, um diesen Mangel an wirklicher Nähe auszugleichen, zu einem Experten in Übertragungsleistungen und Gedankenspielen entwickeln – nur um des Überlebens willen.
    Dass ich zu solchen Dingen befähigt bin, das war mir schon in frühem Kindesalter bewusst. Auch hätte ich kaum den schreibenden Beruf ergreifen können, wenn ich keine Innenwelten zu bespielen hätte. Aber dies nun nicht auf dem Papier, sondern in der Welt? Es entsteht aus der Umkehrung eines der schönsten Titel des Titel-Meisters Alexander Kluge: Der Angriff der übrigen Zeit auf die Gegenwart.

    Denn eines wird mir dann nach zwei, drei, vielleicht war es auch erst im vierten Monat, klar werden: Es ist nicht nur lustig, verliebt zu sein. Es ist zwar intensiv, es ist die beste Droge, die es gibt, aber genau diese Intensität nimmt recht schnell, vor allem im Wortsinne schlagartig bedrohliche Züge an; wenn man, wie ich, sensibel ist, kann das Befallenwerden von Verliebtheit, die sich nicht erlösen lässt, sogar lebensgefährlich werden.
    Davor wird man ja nirgendwo gewarnt. Weder im Hohelied der Liebe noch in einer Oper – in der Norma vielleicht, aber wer hört da so genau hin –, schon gar nicht von den eignen Eltern oder im Schulunterricht. Wie man es anstellt, nicht schwanger zu werden, was der Zitronensäurezyklus vermag oder wie man sich HIV vom Leib hält, darum geht es freilich lang und breit. Aber first things first: Dürfte ich einen Einschnitt des Curriculums vorschlagen, so wäre das noch vor der sogenannten Sexualkunde eine Doppelstunde Liebeswarnung. Frank Schirrmacher gab in den Spuren der Macht den wahren und nicht zu unterschätzenden Satz zu Protokoll: Die Gesellschaft lügt über Geburt, über Ehe, über Kinder, über den Tod. In der Tradition einer schwarzen Pädagogik würde ich anfügen wollen: Und das nächste Mal, wenn ihr mit eurem Schweizer Messer ein Herz mit Pfeil in einen Baum schneidet, dann solltet ihr euch eines gewahr sein: eines Tages kommt eine Person, die wird sein wie dieses Messer, und dann seid ihr plötzlich der Baum.
    Um ganz wahrhaftig zu werden, müsste man anfügen, dass diese Schnitzerei ewig und drei Tage in Anspruch nehmen wird.
    Unerschöpflichkeit ist etwas Wundervolles. Es ist ein wunderschönes Gefühl, geradezu hoffen zu können, mit diesem Menschen einen Flugzeugabsturz zu überleben; oder wie Morrissey es am allerschönsten in Worte fasste:

    To die by your side
Well, the pleasure, the privilege is mine.
    Als mir Wünsche dieser Art vordringlich wurden, wusste ich, dass ich eine Lösung für die Senta-Kustermann-Problematik brauchte. Am Tag darauf flog ich ab nach New York.

New York
    Als ich im Februar vor sechzehn Jahren zum ersten Mal in New York landete, da stand ich in einem der schäbigen Gänge des JFK plötzlich vor einem Bild, das mit ziemlich verblassten Farben eine lieblos gemalte Gruppierung aus Goofy, Donald und Minnie Mouse zeigte. Die Einwanderungsprozedur war damals freilich noch weitaus weniger kompliziert, es gab noch kein Fingerabdruckscanning, keine biometrische Gesichtserfassung, auch keine Vorabregistrierung über esta.com – es gab so gesehen noch nicht einmal ziviles Internet. Aber abgesehen von der enttäuschend altmodischen Ausstattung des

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