Unvergessliches Verlangen: Roman (German Edition)
Prolog
Charleroi, Belgien
Bei Tagesanbruch, 15. Juni, 1815
Ohne Zweifel bedurfte es eines Wunders, um lebend hier herauszukommen. Und er hatte das Gefühl, dass er seinen Anteil an Wundern schon längst verbraucht hatte.
Während er seine Hände an einer Blechtasse heißen Kaffees wärmte, nahm er einen Moment lang seine Umgebung in Augenschein. Die Ebene von Charleroi lag vor ihm wie eine Patchworkdecke in Grün und Gold. Die Hecken schienen in diesem Bild die Nähte zu sein, die die Teile miteinander verbanden. In der Dämmerung wirkte der Sommerhimmel blassgelb, und der Rauch von unzähligen Kanonen stieg aus dem morgendlichen Nebel auf. Im Moment war Ruhe, doch auf dem Schlachtfeld herrschte fieberhafte Geschäftigkeit.
Der Gestank von Schießpulver, erschöpften Pferden und ungewaschenen Männern hing in der Luft. So weit das Auge reichte, bereiteten sich Soldaten auf die Schlacht vor. Lagerfeuer wurden gelöscht, Waffen kontrolliert. In der hügeligen Landschaft hallten die Geräusche der Schleifsteine wider, auf denen emsig die Schwerter geschärft wurden. Das ängstliche Wiehern von Pferden war zu hören. Knappe Befehle wurden gerufen.
In seiner Nähe sortierten die Männer alle Teile ihrer Ausrüstung aus, die sie nicht brauchten. Uniformen wurden zurechtgezupft und geprüft, schlechte Witze erzählt und ermutigende Worte gewechselt.
Keiner der Soldaten nahm Notiz von ihm, als er an einem der erloschenen Lagerfeuer stand. Er war nur ein weiterer Offizier, der noch schnell rauchte, während er auf den Ruf zu den Waffen wartete.
Das war sie nun also. Die entscheidende Schlacht um Europa. Wie, zur Hölle, war er hier hineingeraten? Er hatte nur zurück nach Brüssel gewollt. Er hatte eine Mission zu erfüllen, ein letztes Geschenk zu überbringen. Und zwischen ihm und dem Erfolg standen nur noch die beiden Armeen, die sich zusammenscharten, um wie riesige Bestien aufeinander loszugehen.
Wenn er ein anderer Mensch oder dies eine andere Zeit gewesen wäre, dann wäre er wahrscheinlich gern geblieben, um sein Leben auf dem Altar der Vaterlandsliebe zu opfern. Eine feierliche Gedenktafel in der Dorfkirche machte sich immer gut.
Aber er war kein solcher Mensch. Er hatte schon mehr Sünden begangen, um hierherzugelangen, als sein Gewissen ertragen konnte, und er durfte sich jetzt nicht aufhalten lassen. Er musste Brüssel erreichen. Und wenn er seinen Auftrag hier erledigt hatte, musste er nach England. Das schuldete er den Menschen, die er dort zurückgelassen hatte. Er schuldete es denjenigen, die auf ihn warteten. Vor allem schuldete er es sich selbst.
Es war an der Zeit, endlich die alten Fragen zu beantworten. Um das zu tun, musste er sich Livvie und Gervaise stellen. Er musste die Situation mit seiner Familie klären. Und er musste Rache nehmen.
Ja, dachte er, nahm den Stumpen, den er geraucht hatte, aus dem Mund und warf ihn ins Gras. Dafür lebte er. Rache.
Pfiffe erklangen entlang der Linie. Männer stellten sich in den gigantischen Reihen auf, die einen ganzen Kontinent in Angst und Schrecken versetzt hatten. Er schüttete seinen Kaffee auf den Boden und knöpfte seinen Uniformrock zu. Schließlich nahm er sein Schwert und steckte es mit einem tödlich klingenden Zischen in die Scheide. Er prüfte das Pulver und den Verschluss seiner Pistole und holte seine Muskete hervor, die er während des Ansturms nachladen und abfeuern würde. Er stand allein inmitten des Chaos und überlegte, ob es irgendeinen Weg gab, um diesen Aufruhr zu meiden.
Ein junger Soldat rannte auf ihn zu und grüßte ihn atemlos. » Mon Capitaine. Der Feind ist in Sicht.«
Er betrachtete das ängstliche Gesicht des Jungen vor sich und wünschte, er hätte lachen können. War das hier eine Tragödie oder eine Farce, in der er gefangen war? Der Bursche vor ihm war so jung, dass er noch nie in seinem Leben ein Rasiermesser in der Hand gehalten hatte.
»Gewiss, Soldat. Und was ist unser Auftrag an diesem Morgen?«
Der Junge sah ihn verwirrt an. »Die feindlichen Flanken anzugreifen, Sir.«
»Das werden wir tun. Aber für dich, mon brave, habe ich eine besondere Mission. Bist du bereit dazu?«
Falls das möglich war, wurde der Junge ein Stückchen größer. »Selbstverständlich, Sir.«
»Ausgezeichnet.« Er zog ein Blatt Papier und einen Kohlestift hervor und schrieb etwas auf. »Bring dem Quartiermeister diese Nachricht. Und dann bleib unter seinem Kommando, bis alles vorbei ist.«
Egal, welche Schuld er auch auf sich
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