Unverstanden
herausfordernd an.
»Nein.«
Sie knickte eine Ecke der Zeitungsseite um. »Na schön«, stichelte sie. »Wäre ja auch egal. Ist ja nicht so, als hättest du in den letzten zehn Jahren irgendwas abgekriegt.«
Martin strich sich eine dünne Schicht cholesterinsenkende Margarine auf seine Waffel. Sie pappte darauf wie Bodylotion auf einem toten Mann.
Jemand, der mit Martins Privatleben nicht vertraut war (also ehrlich gesagt jeder bis auf Evie) würde die Tatsache, dass Martin wusste, wie Bodylotion auf einem toten Mann aussah, als merkwürdiges Detail betrachten, das einer genaueren Erläuterung bedurfte. Aber Martin war bereits spät dran, und er dachte nicht gern an seinen Vater, weil das nur das Labyrinth von »Was-wäre-Wenn’s«
hervorbrachte, in dem er sich allzu schnell verhedderte. Was wäre anders gelaufen, wenn Martins Vater in seinen prägenden Jahren hier gewesen wäre, um die Wucht von Evies Hetze abzufangen?
Was, wenn sein Vater hier gewesen wäre, um mit Martin über die Pubertät zu reden - anstelle von Evie, die ihm nur eine Tube Vaseline zugeworfen und ihm gesagt hatte, er solle keine Flecken auf dem Sofa machen?
Was, wenn der Tod seines Vaters als Unfall eingestuft worden wäre?
Martin dachte darüber nach, während er Aktenkoffer und Autoschlüssel vom Beistelltischchen in der Diele holte. Im Spiegel kontrollierte er seine Krawatte, rückte sich den Knoten zurecht und gab sich Mühe, sein Schwabbelkinn nicht zu beachten. Doch er schaffte es nicht und schaute sich erst kurz um, ob Evie noch in der Küche war, bevor er die Haut auf beiden Seiten des Gesichts bis zu den Ohren zurückzog, um sie am Unterkiefer zu straffen. Er musterte sich, jetzt ohne seine Truthahnwamme, und fragte sich, ob es je jemand schaffen würde, über seine unzähligen Schwachpunkte hinwegzusehen und den wahren Martin zu erkennen - die sanfte Seele, den Belesenen, den verblüffend präzisen Buchhalter, der ein fast übernatürliches Talent besaß, fiskalische Daten zu erläutern.
»Bist du noch immer da?«, blaffte seine Mutter.
Atmest du immer noch?
» Bin gerade am Gehen«, erwiderte Martin, ließ die Haut los und sah zu, wie sie sich wieder zu einem Taubenkropf sammelte. Er suchte im Schrank nach einer Jacke, die nicht nach seiner Mutter roch - eine olfaktorische Mischung aus Zigaretten und White-Diamonds-Parfüm mit einem hefigen Unterton von Mozzarella. Er hielt sich jede Jacke kurz an die Nase und entschied sich für den am wenigsten anstößigen Kurzmantel. Beim Zuknöpfen drehte er sich noch einmal zum Spiegel und erhaschte einen Blick auf sein Profil.
Er war nicht ganz ehrlich gewesen, als er behauptet hatte, George Clooney um rein gar nichts zu beneiden. Den Charme oder die Eleganz des Mannes konnte er nicht haben, aber dank der Zauberkünste der plastischen Chirurgie hatte er es immerhin zu einer geraden Nase gebracht. Vor drei Jahren hatte er viel Geld in eine Nasenoperation investiert, mit der festen Absicht, sich in einer Folgeoperation auch das Kinn korrigieren zu lassen. Die Rhinoplastik war erfolgreich, die Reaktionen jedoch, die er in der Arbeit bekommen hatte, waren katastrophal gewesen. Seine alten Klassenkameraden waren mit Martin und seiner Nase aufgewachsen. Nicht umsonst hatte er schon sein ganzes
Leben lang den Spitznamen »Zinken«. Dass der fragliche Zinken nun plötzlich nicht mehr da war, ließ den Spitznamen nur noch angemessener erscheinen. Die Hänselei wurde noch schlimmer, nachdem der Verband abgenommen war, und obwohl er behauptete, er habe sich nur operieren lassen, um eine Fehlbildung der Nasenscheidewand zu korrigieren, glaubte ihm keiner. Danach schien eine Kinnoperation nichts als eine Einladung zu weiterem Spott zu sein.
Aber Martin würde zu spät zur Arbeit kommen, wenn er sich jetzt die Zeit nähme, die Farcen seines Lebens zu zählen.
Er schloss die Haustür ab und ging das Vordertreppchen hinunter. Sein Camry stand am Briefkasten, der in die Beifahrertür geritzte »Schlappschwanz« glitzerte taufeucht. Der Versicherungsgutachter hatte gemeint, der Papierkram für die Lackreparatur würde eine Weile dauern. Ben Sabatini, der Gutachter, war in der Schule Martins fiesester Peiniger gewesen. Martin hatte den Eindruck, dass der Mann sich absichtlich Zeit ließ.
Der Vandalismus war letzte Woche passiert. Martin hatte, so wie auch heute Morgen, das Haus verlassen und feststellen müssen, dass man sein Auto geschändet hatte. Evies Gelächter klang ihm noch in den Ohren,
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