Unzaehmbares Verlangen
Taille.
Das bläuliche Licht des Mondes spiegelte sich in Lettys runden Brillengläsern wider. Sie runzelte die Stirn, musterte ihn von Kopf bis Fuß und stellte offensichtlich mißbilligend fest, daß er nur eine Jeans trug. Joel fragte sich, ob sie gleich ein Lineal herausholen und ihm damit auf die Finger schlagen würde.
»Keine Sorge«, sagte er. »Ich habe nicht vor, mit dem Familiensilber durchzubrennen. Ich wollte mir nur ein wenig Bewegung verschaffen.«
»Bewegung?« Sie starrte auf seine nackte Brust, als hätte sie so etwas noch nie zuvor gesehen. »Aber es ist mitten in der Nacht. Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»O doch.« Er schob die Glastür auf. Die kühle Luft strich wie klares, kaltes Wasser über sein Gesicht - sie würde die letzten Bilder seines Alptraums vertreiben.
»Warten Sie, Joel. Sie können um diese Zeit nicht allein hinausgehen.«
Joel drehte sich zögernd um, als er hörte, wie sie mit nackten Füßen über den Holzboden lief. »Was, zum Teufel, ist denn los, Letty? Ich will doch nur eine Runde laufen. Gehen Sie wieder ins Bett und schlafen Sie endlich.«
»Das kann ich nicht zulassen.« Sie kam rasch auf ihn zu. und blieb direkt vor ihm stehen. »Das geht einfach nicht, Joel.«
Er sah sie mit wachsender Neugier an. »Also gut, ich gebe auf. Warum können Sie das nicht zulassen?«
Ihre Augen hinter den Brillengläsern schienen noch größer zu werden. »Weil es gefährlich ist. Was ist denn los mit Ihnen? Sind Sie verrückt geworden? Sie können in einer so verlassenen Gegend um diese Uhrzeit nicht allein durch die Landschaft rennen. Es könnte alles mögliche passieren. Erst vor ein paar Tagen habe ich einen Artikel über einen Serienmörder in den Bergen gelesen.«
Joel verschränkte die Arme vor der Brust. Trotz seiner schlechten Laune war er belustigt. »Stand in dem Artikel auch, wo genau der Mörder sein Unwesen getrieben hat?«
»Ich glaube, irgendwo in Kalifornien«, murmelte sie. »Aber das ist doch völlig unwichtig. Es ist einfach gefährlich, in der Nacht allein herumzulaufen. Es gibt eine Menge verrückter Leute auf der Welt.«
»Denen kann ich davonrennen.«
»Und was ist mit den Bären?« fragte sie beharrlich. »Können Sie auch einem Bären davonlaufen?«
»Das weiß ich nicht - ich habe es noch nicht versucht.«
»Außerdem ist es ziemlich kalt draußen.«
»Sobald ich mich bewege, wird mir warm.«
»Ich habe einen Artikel über eine schreckliche Kreatur gelesen, die hier in den Bergen des Nordwestens leben soll.« Letty sah beinahe verzweifelt aus.
Joel verkniff sich mit Mühe das Lachen. »Sie glauben doch nicht etwa an Bigfoot, oder?«
»Nein, natürlich nicht. Trotzdem halte ich es für keine gute Idee, allein loszulaufen.«
Joel spürte den kühlen Luftzug, der durch die offene Tür hereindrang. »Ich habe Ihre Einwände zur Kenntnis genommen, Miß Thornquist. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte -ich möchte endlich los.«
Sie legte sanft ihre Hand auf seinen Arm. »Es wäre mir lieber, Sie würden es lassen. Ich mache mir sonst große Sorgen.«
Ungeduldig schüttelte er den Kopf. Dann trat er auf die. Veranda hinaus und hängte das Handtuch über das Geländer. Als er bemerkte, daß Letty ihm bis zur Tür folgte, runzelte er die Stirn. »Verdammt, ich will nichts mehr hören. Gehen Sie wieder ins Bett.«
Sie hob trotzig das Kinn. »Nein, das werde ich nicht tun.«
Joel seufzte. »Was wollen Sie dann tun?«
»Wenn Sie sich von diesem dummen Vorhaben nicht abbringen lassen, werde ich Wache halten. Der Mond scheint hell, und ich kann von hier aus die Straße sehen. Ich werde Sie im Auge behalten.«
Er sah sie ungläubig an. »Sie wollen warten, bis ich zurück bin?«
»Es bleibt mir anscheinend keine andere Wahl. Ich kann sowieso nicht schlafen, wenn Sie wie eine lebendige Zielscheibe dort draußen herumlaufen.«
Joel gab auf. »Wie Sie wollen. Ich verschwinde jetzt.«
Ohne sich noch einmal umzusehen, sprang er die Treppen hinunter. Er war sicher, daß die kühle, klare Nachtluft ihm helfen würde, den quälenden Ärger und die Frustration zu vertreiben, die ihn den ganzen Tag geplagt hatten.
Leichtfüßig lief er los, bis er seinen Rhythmus gefunden hatte. Dann sah er sich kurz um. Er konnte Letty hinter der Glastür kaum erkennen, sah aber, daß sie die Nase an die Scheibe preßte. In diesem Moment wirkte sie ganz und gar nicht wie eine spröde Bibliothekarin aus dem Mittelwesten. Mit dem weißen Nachthemd und der wilden
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