Urban Gothic (German Edition)
jemand lebt?«
»Sieh’s dir doch mal an«, gab Javier zurück. »Wer soll in einer solchen Bruchbude schon leben?«
»Crackjunkies«, antwortete Kerri. »Obdachlose. Ratten.«
Statt etwas zu erwidern, drängte sich Javier an den anderen vorbei und stapfte die durchhängenden Verandastufen hinauf. Sie ächzten zwar unter seinem Gewicht, hielten aber stand. Das Geländer wackelte, als er sich daran abstützte, und kleine Rost- und Lackflocken rieselten auf den Boden.
Die anderen folgten ihm. Kerri betrachtete die groben Ziegel und den Mörtel der von wucherndem, weißlich grünem Moos überzogenen Außenmauer. Sämtliche Fenster waren mit feuchtigkeitsfleckigen Sperrholzplatten vernagelt. Seltsamerweise wies das verlassene Gebäude im Gegensatz zu allen anderen in der Straße keinerlei Graffiti auf.
Als sie sich alle auf der Veranda befanden, nahm Javier die von Kerben übersäte Holztür in Augenschein. Sie wirkte unförmig, durch Wasser verzogen, und mehrere Schichten Lack blätterten davon ab und brachten darunter eine Palette hässlicher Farben zum Vorschein. Javier ertastete den altmodischen Messingknauf und drehte ihn. Die Tür öffnete sich mit einem schabenden Quietschen. Dreck und Lack rieselten auf seinen Unterarm und in seine Haare. Javier trat zurück und klopfte sich ab.
»Hallo?« Bretts Stimme ertönte als heiseres Flüstern. »Ist jemand zu Hause?«
Keine Antwort.
Sie spähten hinein, doch im Inneren herrschte tiefe, bedrückende Finsternis. Kerri beschlich der Eindruck, wenn sie die Hand ausstreckte, würde sich die Dunkelheit als greifbar entpuppen und wie Teer an ihren Fingern kleben. Javier setzte sich in Bewegung und trat in die Schwärze. Kerri folgte ihm. Stephanie und Heather zögerten kurz, bevor sie ebenfalls hineingingen. Heather hinkte und hinterließ immer noch blutige Fußabdrücke. Brett folgte den beiden Mädchen und Tyler bildete das Schlusslicht und warf hinter sich die Tür zu. Das Geräusch hallte laut durch das Gebäude. Die anderen warfen ihm verärgerte Blicke zu. Tyler zuckte trotzig mit den Achseln.
»Wir brauchen Licht«, flüsterte Kerri.
Sie holte ihr Feuerzeug hervor und ließ es aufflammen. Die Schatten schienen sich um die flackernde Helligkeit zu drängen. Tyler klappte sein eigenes Feuerzeug auf und folgte Kerris Beispiel. Heather, Javier und Stephanie zückten jeweils ihre Handys und steuerten den schwachen Schimmer der Displays als Lichtquelle bei.
Kerri drehte sich mit dem Feuerzeug im Kreis. Eine Spinnwebe streifte ihre Wange. Zitternd wischte sie die Fäden weg. Sie standen in einer feuchten, schimmligen Diele. Ein Gang führte in die Dunkelheit. Mehrere geschlossene Türen zweigten davon in andere Teile des Hauses ab. Gelbe Tapeten schälten sich in großen Lagen von den schäbigen Wänden und offenbarten darunter rissigen, nackten Verputz mit schwarzen Stockflecken. Die Fußbodenleisten wiesen dort, wo Ratten und Insekten sich darüber hergemacht hatten, Löcher auf.
Etwas huschte mit einem trockenen, raschelnden Geräusch durch die Schatten. Heather unterdrückte ein Kreischen.
»Hörst du was?«, wollte Javier von Tyler wissen und nickte in Richtung Tür.
Tyler beugte sich näher heran und lauschte. Dann schüttelte er den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Nichts. Aber das Feuerzeug verbrennt mir allmählich die Finger.«
Er ließ den Knopf los und die Flamme erlosch. Trotz des anderen Feuerzeugs und der nach wie vor schimmernden Handydisplays wurde es schlagartig dunkler.
»Vielleicht sind sie ja weg«, meinte Brett. »Vielleicht haben sie aufgegeben.«
»Und vielleicht«, gab Tyler zurück, »demolieren sie gerade Dustins Auto, während wir hier rumstehen. So eine verfluchte Scheiße.«
Er streckte die Hand nach dem Türknauf aus.
»Was hast du vor?«, flüsterte Kerri.
»Nachsehen, was draußen los ist. Ich mache nur einen Spaltbreit auf.«
Seine Hand drehte sich. Der Knauf nicht. Er rüttelte daran, aber das Schloss gab nicht nach.
Stephanie drängte sich an Brett, spähte über seine Schulter und beobachtete Tyler. »Was ist?«
»Das verfluchte Ding klemmt oder so. Geht nicht auf.«
Javier stöhnte. »Ist die Verriegelung eingeschnappt, als die Tür hinter dir zugefallen ist?«
»Woher soll ich das wissen, verdammte Scheiße?«
»Nur die Ruhe, Kumpel. Sprich leise. Wir wollen doch nicht, dass sie uns hören.«
»Mir egal. Ich bleib nicht die ganze Nacht in dieser Bruchbude. Da draußen steht das Auto meines
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