Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Hoffnung, nicht aufgefangen zu werden, wie es sonst bei Trapezkünstlern üblich ist.
Frank Stolp ist ein Bruder von Sartres Antoine Roquentin aus dem Roman Der Ekel – und in seinem Wirklichkeitsverlust und wachsendem Befremden vor der Welt verwandt auch mit Camus’ Mersault, dem Fremden in dessen gleichnamigem Roman. Vor allem aber ist er ein Nachfahre des Titelhelden von Nizons Roman Stolz , jenem Studenten, der über seiner van-Gogh-Doktorarbeit im Spessart brütet und sich aus genereller Lebensmüdigkeit in den Schnee legt und einschläft. Das Fell der Forelle hat gleichwohl einen völlig anderen Ton, ist leicht, verzweiflungskomisch, humorvoll – hat fast den Charakter eines melancholisch witzigen Clownspiels, weggerückt von der Selbsterfindung des Autors. Der ist seßhafter geworden, weniger unterwegs, und kann seinem Helden und seiner Flucht vor der Unbill des Lebens amüsiert zuschauen: »Übrigens hat mir noch nie das Schreiben eines Buches so viel Spaß gemacht und Vergnügen beschert. Es ist einfach schlicht wunderbar, wie die Dinge aus mir heraus- oder hervorkriechen. Wie ich mich überraschen lasse. Zudem ist mir bewußt, daß ich meine eigene Depression im Zusammenhang mit der Scheidung auf den armen ›Frank‹ übergewälzt habe. Kaum fing er an, auf dem Papier zu laufen, fühlte ich mich erlöst und befreit.«Das trägt Paul Nizon am 24. Mai 2004 in sein Journal ein. In der Verrückung ein artistisches Wunder, von dem man nicht weiß, wohin es führt und wie es endet. Und für Paul Nizon erstmals tatsächlich so etwas wie ein Heil im Schreiben!
Das knüpft an Nizons Anspruch an, aus dem (Sprach-)Kunstwerk das Leben selbst hervorzutreiben. In seinem Goya -Buch (1991, dt. 2011) beschreibt Paul Nizon die Reaktion des Betrachters, der in einem Ausstellungssaal auf ein Gemälde Goyas stößt: »Er möchte sich mit seinen Augen an die Erscheinung hängen wie die Biene an den Blumenkelch, es ist das Erregendste, das er je sah, der Sturz in die tiefste Erinnerung, es ist die Erinnerung an den erschütternden Traum, den man hatte und eben verliert, solche Einsicht , solches Wiedererkennen, nicht nur das Leben scheint aus dem Bild zu blühen, auch ein unendliches Gedächtnis, es geht zurück bis nach Pompeji, was ist der Mensch, auf welcher Bühne steht die abgebildete Kreatur, vor welchem Richter. … Ich würde den Gegenwärtigkeitsgrad, ich würde die Verdichtungsqualität, um nun vom Malwerk zu sprechen, mit dem Wort ›Offenbarung‹ quittieren. Sie reißt dem Betrachter die Binde von den Augen und stürzt ihn in einen Zustand der Beteiligung, der mit Erleuchtung und also mit Liebe zu tun hat.«
Der Kunstkritiker, nein, der Dichter Paul Nizon beschreibt ein Kunstwerk, das ihn, den Betrachter, überwältigt, gleichsam als Leben schlechthin vor ihm aufsteigt – Kunst in ihrer Vollendung! Nizon hat keine Scheu, für die eigenen Empfindungen und die Beschreibung der Lebendigkeit des Kunstwerks, das tief am Unbewußten rührt, an der Erinnerung, am Traum, und bis weit in die mythische Geschichte reicht, religiöse Metaphern zu verwenden: Erscheinung, Offenbarung, Erleuchtung, Liebe.
Über diesen Anspruch hat auch jener hier schon wiederholt zitierte Künstler nachgedacht, von dem Nizon sagt, er sei »eine der ganz wenigen geistigen Instanzen meines Lebens« gewesen, eine »väterliche Instanz«: der in Bulgarien geborene, spanischstämmige und in der deutschen Sprache aufgewachsene jüdische Schriftsteller Elias Canetti, der die Kriegszeiten im englischen Exil verbrachte und im Frieden mal in London, mal in Wien, Berlin oder in den letzten Lebensjahren bis zu seinem Tod 1994 in Zürich lebte. In London und in Zürich sind sich Canetti und Nizon häufiger begegnet, haben sich nicht nur »Menschen, Personen, erzählt«.
Unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fand Canetti den Satz eines anonymen Autors, der ihn zum Nachdenken brachte: »Es ist aber alles vorüber. Wäre ich wirklich ein Dichter, ich müßte den Krieg verhindern können.« Was nach Niederlage und Versagen der Dichtung vor der Realität klingt, entfaltet für Canetti noch eine weitere Dimension: »Es ist ebendieser irrationale Anspruch auf eine Verantwortung, der mich hier nachdenklich macht und besticht«, schreibt er in seiner Münchner Rede Der Beruf des Dichters (1976). »Es wäre dazu auch zu sagen, daß es durch Worte, bewußt und immer wieder eingesetzt, mißbrauchte Worte zu dieser Situation gekommen ist, in der der
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