Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
Gestus der Freundschaft oder der Nähe und seine Beiträge zu Film und Kunst sind dem subjektiven Geist und dem persönlichen Erfahrungshorizont, wie sie der Weltbürger Montaigne propagierte, näher als den eher strengen deutschen Essaykonventionen. Die ersten Namen der französischen Literatur sind dem Schweizer nicht nur geläufig, er hat sie, wie den Journalen zu entnehmen ist, auch gelesen. Seine Bücher erscheinen in Frankreich fast gleichzeitig und gelegentlich auch vor den Ausgaben in Deutschland. Die Sekundärliteratur ist in Frankreich umfangreicher und tiefgründiger, das Interesse an ihm und die Wertschätzung sind für ihn dort größer. Deshalb verwundert es nicht, daß bereits im Juni 2003 die Neue Zürcher Zeitung unter dem Titel »Die Fallen der Vorstellungskraft« einen Beitrag über Autofiktion in Frankreich veröffentlichte, der den Schweizer Autor mit einbezieht. Nizon berichtet am 5. Juni 2003 im Journal darüber, zitiert den Essay von Ivan Farron: »Diese Utopie, Leben und Buch engzuführen, ist ein Autorentraum: Nizon bleibt in der Literatur, wohingegen heute viele autofiktionale Autoren sie verlassen, um sich der reinen Performance hinzugeben.« Und: »Den Versuch, tatsächlich der Autor Paul Nizon zu werden, mußte der zivile Paul Nizon mit seiner Person bezahlen: gar nicht leicht, der eigenen Vorstellung zu genügen …« Nizon kommentiert das anschließend so: »Das Interessante in dem Aufsatz, der mich in einen Zusammenhang mit Doubrovsky, Roland Barthes, Robbe-Grillet, Lacan, Derrida … stellt, ist meine selbstverständliche Integration in einen rein französischen Literatur-Diskurs. Ich bin effektiv in die französische Literatur eingegangen und insofern eine leuchtende Ausnahme.«
Unter dem Datum vom 23. Juli 2005 finden wir eine Eintragung im Journal, die unser Thema unter einem neuen Aspekt berührt. Sie greift auf ein öffentliches Gespräch zwischen dem an der Düsseldorfer Kunstakademie lehrenden Publizisten Heinz-Norbert Jocks und Paul Nizon im Dezember 2004 in Basel zurück. Nizon schreibt im Journal über Jocks: »Ihm geht es darum, daß er auch in den Journalen, handle es sich um die Vaterfigur und den Schock des Vaterverlustes in der Kindheit, eine Fiktionalisierung, wenn nicht Schönschreibung des (verdrängten) Sachverhalts zu konstatieren vermeint dergestalt, daß es sich zwischen Journal und Fiktion einzig um graduelle Unterschiede der Literarisierung handle. Um Dunkelzonen. Verbrämung bis Irreführung. Das hat ja auch schon Derivière in seinem Essay festgestellt, nämlich daß man über mein Leben, insbesondere auch Kindheit, im Grunde so gut wie nichts erfahre. Auch der erzählende Clochard in Hund will ja keine Geschichte, kein Erkennungsbild. Er will im dunkeln bleiben. Statt dessen die SELBSTERFINDUNG. ›Ich bin meine eigene Erfindung.‹ Warum? Offenbar geht mein Schreiben oder besser dessen schöpferische Energie von einer Leerstelle aus, einem Verschwiegenen, vergleichbar dem Loch in Perecs Dichtung oder derjenigen von Danilo Kiš.«
Nizon bestätigt im Journal die These von Heinz-Norbert Jocks und denkt nach über jene Leerstellen, die seine schöpferischen Energien hervorgerufen und ihn sich selbst haben erfinden lassen. Man könnte hier versucht sein, mit Lacans Spiegeltheorie und dem vergeblichen Versuch der Identitätsfindung eine einigermaßen plausible Antwort zu geben. Nizon formuliert es so, noch immer unter dem Datum vom 23. Juli 2005: »Alles was bei mir mit Herkunfts- oder Ursprungsbedingungen zu tun hat, ist in eine melancholisch-geheimnisvolle Trübnis getaucht, so im Haus -Buch, so im Wal . Alles muß vom Unglück beglaubigt werden. Und wenn ich es recht bedenke, ist meine Kindheit zu (großen) Teilen der innerlichen Überwindungsarbeit eines klaffenden Mankos gewidmet. Die Überwindung hat das Gewicht von Schutzmaßnahmen bis Maskeraden und reicht bis zu heroischen Romantisierungen. Hier der Ursprung meiner Dichtung. Heroisierung des Vaters, Heroisierung der familiären Dekadenz. Zuschreibung.
Es muß ein unerträglicher Schmerz federführend gewesen sein, die bare Unannehmbarkeit, eine wahre Flucht in die Literatur … Emigration bzw. Untertauchen als Überlebenspraxis.«
In den Notizen seiner Freundin Elisabeth Plahutnik findet Nizon einen ähnlichen Hinweis, er notiert unter dem Datum vom 29. Januar 2006: »… sie habe von Anfang an die Vermutung gehabt, daß mein Auftreten, meine Erscheinung, Allüre, ein maßgeschneidertes Kostüm
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