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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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oder Tarnkleid sei, um eine tiefe, in frühkindlichen Umständen erlittene Beschädigung zu verbergen, und diese Tarnung gehe so weit, daß sie sich auch in den Büchern niederschlage, insofern die Erzählerperson überhaupt nicht mit der Lebensperson übereinstimme. Phänomen einer Rolle.« Vaterferne und ein Mangel an Zärtlichkeit der Mutter hätten dazu geführt, daß die erzwungene Autonomie des Kindes sehr früh »in eine Umerfindung des Ichs umgeschlagen habe, eine Selbsterfindung als Wappnung«. Nizon erklärt sich daraus die in seinen Büchern »omnipräsente Gefahr der Lethargie bis Depression«, der Lebemensch in ihm entstehe aus der Kompensation des Mangels und als Tarnung, und aus der brüchigen Selbsterfindung erwachse »das Kämpferische bis Arrogante, Ichbezogenheit bis Egomanie, Liebesunfähigkeit«.Aber auch diese Erklärungsversuche sind nicht ohne Ironie wiedergegeben. Nizon verweigert oft das Erkennungsbild, die eindeutige Aussage oder Geschichte. Dem Leser wird nichts geschenkt! Ambivalenz ist vorherrschend.
    Das Buch zum Thema hatte bereits einige Jahre vor diesem Eintrag der belgische Philosoph und Publizist mit besonderem Interesse für das autobiografische Schreiben, Philippe Derivière, verfaßt. Der komplexe Essay, der sich häufig an Lacans Terminologie anlehnt, ist unter dem Titel Paul Nizon – Das Leben am Werk auch auf deutsch erschienen, aber zunächst ohne tragende Resonanz geblieben, bis im Dezember 2004 in Basel besagtes Gespräch zwischen Nizon und Jocks stattfand. Auch andere haben dieses Thema angesprochen, wie zu lesen ist, aber es hat bis heute nicht wirklich Eingang gefunden in die Nizon-Rezeption im deutschsprachigen Raum. Offenbar ist es im literarisch experimentierfreudigeren Frankreich von größerer Bedeutung. Derivière spricht von der Autofiktion als Labor neuer Formen und nennt Nizons literarisches Experiment in dieser Hinsicht einmalig. »Die Wahrheit befindet sich für diesen metaphysischen Landstreicher also auf der Straße … Das Ziel des Lebens wird schließlich die Reise sein und die Bewegung, die sie hervorbringt.« Robert Walser, Blaise Cendrars und Henry Miller bilden in seinen Augen die Traditionslinie, die Nizon fortsetze, »die keine andere Wahrheit als die der Unstetigkeit kennt« – Nizon sei der Autor, der ihre subtile Unordnung akzeptiere. Derivière bezeichnet das als eine nomadische Literatur, eine »dem Sprung, dem Übergang und dem Aufsprengen verschriebene Prosakunst« – eine Prosakunst, die sich der Bewegung und dem Offenen verpflichtet hat und damit natürlich den formalen Erweiterungen im Umfeld der literarischen Moderne zuzuschreiben ist.
    Im dunkeln bleiben – auch Derivière konstatiert in seinem Essay, daß Nizon trotz seines »Kults des Ichs« nicht damit aufhöre, seine eigene Biografie, insbesondere die angeblich schmerzhafte Geschichte seiner frühkindlichen Entwicklung zu verwischen. Dazu finden wir eine Erklärung in dem Band Die Republik Nizon. Eine Biografie in Gesprächen (2005). Diese Gespräche hat Derivière bereits 1999 mit Nizon geführt. Hier wird er auf das fehlende Buch seiner Kindheit angesprochen, er gibt eine überraschende Antwort: »Das ist ein Thema, das mich nicht interessiert hat. Meine Schwester, der ich mich sehr nahe fühle, teilt überhaupt nicht meine Sicht über jene Zeit und erkennt auch nicht wieder, was ich darüber in meinen Büchern schreibe. … Ich weiß nicht, warum ich für meinen Teil nur die düsteren Seiten im Gedächtnis behalten habe. Es war wohl so, daß ich mich selbst erfinden wollte, und um sich selber zu erfinden, muß man reinen Tisch machen und seine Wurzeln leugnen. Indem ich mit meiner Kindheit auf diese Weise verfuhr, befreite ich mich davon und bereitete den Boden für jene Ich-Erfindung vor, die später in Das Jahr der Liebe vollzogen wurde.«In Derivières Essay heißt es: »Um das Gemisch von Wahrheit und Verwischung, Realität und Fiktion, die seine Unternehmung kennzeichnen, zu benennen, eignet sich der Begriff Autofiktion (oder Selbsterdichtung?) besser als jeder andere. Sich aussprechen (ausdrücken) heißt sich erfinden.«
    Die Journale mit ihrem Werkstattcharakter bieten die Möglichkeit, die Autofiktion ausdrücklich zum Thema zu machen, mit ihr spielerisch oder ironisch umzugehen, die Rolle des Autors zu hinterfragen. Das gehört mit zum Faszinosum dieser das literarische Werk begleitenden und einbindenden Überlegungen, Äußerungen und Begegnungen, die Nizon als

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