Urlaub fuer rote Engel
diese etwa 3.000 DM teuere Anlage, die noch keiner benutzt hat.«
Einfaches Schreibpapier für meine Notizen findet Wolfgang Barthel auch in seinem Büro nicht. Stattdessen gibt er mir karierte
Bogen des Thüringer Landesvermessungsamtes für die Prüfungsarbeiten von Kartographen und Vermessungstechnikern im gehobenen
und mittleren vermessungstechnischen Verwaltungsdienst. Ich will wissen, was für Fragen bei der Prüfung gestellt werden.
Er sagt: »Wie kann man die Abweichung der Koordinatenachse bei Winkelmessung …«
Ich entgegne verstört: »Nein, nicht noch einmal von vorn!« Und frage, ob man bei der Prüfung auch aufschreiben muss, weshalb
einer Geodät werden möchte, was man vom Beruf erwartet und wie man sich bei der öffentlich bestellten Arbeit zu verhalten
hat.
Nein, das sei nicht gefragt. Aber das könnte ich in alten Büchern nachlesen. Einige schon vergilbte stehenbei Wolfgang Barthel neben den neuen Gesetzbüchern und den wissenschaftlichen Werken im Regal. Nach der Auflösung des Bereiches
in Gera konnte sich, wer wollte, aus der geodätischen Bibliothek einen Karton voll Bücher mitnehmen.
Aus der 1775 verfassten »Instruction vor einem Land- und Feldmesser, welcher verpflichtet werden soll«:
»Soll ein Land- oder Feldmesser sich eines ehrbaren und Christlichen Wandels befleisigen, bey seinen angewiesenen Messungs
Verrichtungen beständig nüchtern und mit jedermann verträglich halten, kein unnötig Geschwätz oder Zänkerey anfangen, sonderlich
gewissenhaft, treu, aufrichtig, willfährig und fleißig bezeigen, mithin keinesweges durch Geschenke verblenden oder sonsten
etwas Unrechtes zu Schulden kommen, oder die geringste Partheylichkeit weder aus Gunst Freundschaft oder anderer Neben-Absicht
im Messen spüren lassen …«
Vielleicht wäre es nützlich gewesen, vor meinem geodätischen Unterricht das alte Buch zu lesen. Dann hätte ich zumindest gewusst,
wie und was Vermesser sein sollten.
II
Von Erfahrungen, die man bei serbischen Zigeunern und moçambiquanischen Maurern sammeln kann
Festrede auf der »Internationalen Studentenwoche Ilmenau – ISWI 2009« zum »Dies academicus«
Die Afrikaner sagen: »Man kann nicht in ein fremdes Dorf gehen und den Einheimischen sofort ihre eigene Geschichte erzählen.«
Liebe Freunde, wahrscheinlich bin ich deshalb hier und heute kein guter oder, sagen wir es anders, ein durch Sie hundertfach
ersetzbarer Redner. Ein jeder von Ihnen, die Sie aus 38 Ländern nach Ilmenau gekommen sind, könnte hier vorn stehen und über
die Erfahrungen mit den Menschenrechten im eigenen Land sprechen. Und ich würde mir wünschen, dass Sie nicht über verhungerte
und verdurstete Menschen, über Menschen, die ohne Medizin dahinsiechen, und von Kindern, die nie eine Schule besuchten, aber
zur Prostitution gezwungen werden, sondern von schon durchgesetzten Menschenrechten sprechen könnten. Wobei ich unter Menschenrechten
nicht nur die klassischen wie Essen und Trinken, medizinische Versorgung, Bildung usw. verstehe, nein, für mich sind Menschenrechte
alle Bedingungen, die den Menschen in Würde leben lassen, also die Freiheit, seine Meinung zu sagen, ohne dafür eingesperrt
zu werden; die Freiheit, sein Land zu verlassen, ohne dabei erschossen zu werden; die Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit
…
Mit diesen Themen, Sie merken es, will ich Ihnen, der afrikanischen Weisheit folgend, nicht gleich Ihre Geschichten erzählen,
sondern von meinen Erfahrungen in diesem Land berichten.
Fast auf den Tag genau vor 20 Jahren – mein Buch »Der Erste«, in dem ich versucht hatte, die Wirklichkeit in der DDR realistisch
zu beschreiben, war gerade veröffentlicht worden – las ich hier an der Technischen Hochschule Ilmenau aus diesem Buch. Und
es waren so viele Zuhörer erschienen, ich glaube über 300, so viel wie nie zuvor und wohl auch nie mehr danach bei einer meiner
Lesungen. Es war der Frühling 1989, als in der DDR die Menschen begannen, gegen die alten sozialistischen Strukturen, die
Staatspartei und die SED-Diktatur zu rebellieren. Sie verlangten – und das waren Menschenrechte für sie – Pressefreiheit und
Versammlungsfreiheit und Reisefreiheit, also Demokratie. Mit dem Ruf »Wir sind das Volk« beendeten die Menschen in der DDR
wenig später das alte System und erkämpften sich Freiheit, Demokratie und Menschenrechte.
Ich war in dieser Zeit des Umbruchs nicht hier. Ich war zuvor in die Sowjetunion
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