Urlaub fuer rote Engel
gefahren, um dort die Auswirkungen der neuen
demokratischen Politik von Gorbatschow, also Perestroika und Glasnost, Umbau und Offenheit, zu studieren und darüber ein Buch
zu schreiben. Ich hatte in den drei Monaten weit hinten in der Sowjetunion, in Kamyschin, nur tröpfchenweise Informationen
über die Veränderungen in der DDR erhalten. Als ich im November zurückkam, war schon alles erledigt. Die Grenze zur BRD offen,
es wurden keine Menschen mehr erschossen, die aus der DDR flüchteten.Es gab demokratische Wahlen, es gab Pressefreiheit. Dinge, die nicht extra in der Charta der Menschenrechte zu finden sind,
die aber für mich zu den wichtigen im menschlichen Zusammenleben gehören. Wie gesagt, ich kam Ende November 1989 zurück und
hatte sofort in der jetzt neuen Zeit ein traumatisches Erlebnis.
Ich bin 1941 während des Zweiten Weltkrieges geboren. Als ich drei Jahre alt war, wollte meine Mutter mit mir meinen verwundeten
Vater im Lazarett besuchen. Die wenigen Züge, die damals noch fuhren, waren mit Flüchtlingen überfüllt. Manche lagen auf den
Dächern. Meine Mutter reichte mich durch das Fenster in einen der überfüllten Waggons, und fremde Reisende legten mich in
ein Gepäcknetz. Die Mutter kam nicht mehr in den Zug hinein. Seitdem habe ich Angst vor überfüllten Zügen.
Als ich im Herbst 1989 aus der Sowjetunion zurückkam, sah ich auf dem Bahnhof in Halle ähnlich überfüllte Züge wie im Krieg.
Babys wurden durch die Fenster hineingereicht, und ein Ehepaar schleppte – dieses Bild vergesse ich nie – auf einer Rotkreuztragbahre
einen alten Mann, wahrscheinlich den Großvater. Sie stellten die Tragbahre vor der Zugtür hochkant und schoben den alten Mann
hinein. Umfallen konnte er nicht.
Ich fragte den Zugschaffner entsetzt, ob inzwischen ein Krieg begonnen habe.
Nein, sagt er, aber wenn das Baby oder der Großvater lebendig im Westteil Deutschlands ankommen, erhält die Familie zur Begrüßung
im Westen zusätzlich 1oo DM.
Ich fragte, ob in der DDR inzwischen eine Hungersnot ausgebrochen sei.
Nein, sagt er, es gäbe alles zu essen. Man bräuchte die 100 DM nur für die Extras, die man in Westdeutschland kaufen könnte.
Für einen besonderen Wein oder einen besonderen, in der DDR nicht erhältlichen Käse.
Den Großvater oder das Baby für die Extras.
Ich begriff, dass die gerade errungenen Menschenrechte und die neue Freiheit nicht automatisch auch eine neue Menschenwürde
bedeuten.
1980 hatte ich, um ein Buch darüber zu schreiben, ein Jahr mit jungen Leuten aus der DDR und Arbeitern aus Moçambique am Sambesi
Häuser für afrikanische Bergleute errichtet. Dort musste ich meine furchtbarsten Lehrstunden über Menschenrechte und Menschenwürde
absolvieren. Es waren schreckliche Erlebnisse. Nie mehr werde ich die nicht enden wollenden Schreie der Mütter, die ihre verhungerten
Kinder wie eine Opfergabe in den Händen hielten, aus meinem Gedächtnis löschen können. Nie die von eiternden Wunden bedeckten,
ohne Medizin hilflos sterbenden alten Männer vergessen und auch nicht – dort war das Lebensrecht des Menschen gleichzeitig
auch das Lebensrecht der Tiere – die vor ausgetrockneten Tümpeln liegenden verdorrten Tierkadaver.
Pinto, einer der jungen afrikanischen Arbeiter, lief jedes Wochenende 40 Kilometer durch die Savanne, um seinen Geschwistern
und seiner Mutter sechs Handvoll Maiskörner, die er von seiner Ration aufgespart hatte, zu bringen. An einem Montag kam er
zu spät zur Arbeit zurück. Seine Mutter und seine jüngste Schwester waren verhungert, und er hatte sie erst begraben müssen
und seit zwei Tagen nichts gegessen. Nichts außer Schmerztabletten,die er im Camp kostenlos bekam. Damit versuchte er, den Schmerz des Hungers zu betäuben.
Ich ging, um aus unserer Küche (wir Weißen hatten eine eigene Küche) Brot für ihn zu holen. Ich musste es heimlich tun und
das Brot unter meinem Hemd verstecken, denn ich kannte die Vorwürfe meiner Landsleute. Meiner Landsleute, die den Afrikanern
Häuser bauten!
»Wenn du den Schwarzen einmal Brot gibst, verlangen sie jeden Tag Brot! Willst du verhungern müssen wie sie? Entweder sie
oder wir.«
Das waren meine schlimmsten Erlebnisse.
Dazu die Erkenntnis, dass man, um wirklich helfen zu können, nicht nur die Moral und den Willen, sondern das Geld dazu aufbringen
muss. Billionen, die nicht die Hilfsbereiten, sondern beispielsweise die Waffenindustrie und Banken besitzen. Und
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