Uschi Zietsch
würdig. Aber nicht Oloïn.«
Gorwyna fragte laut: »Wie könnt Ihr mich mit geschlossenen Augen sehen?«
»Seht mich an, Kind!«, antwortete er und hob die Lider. Sie erschrak, als sie in völlig weiße Augen blickte. »Meine Sinne sind schärfer als die eines Tieres, und mein alter Geist ist so geschult, dass ich Euch abtasten und erkennen kann, als besäße ich mein Augenlicht noch.«
»Wie kann ein solcher Mann soviel Leben vernichten?«, flüsterte Kelric. »Ihr müsst eine tödliche List kennen.«
»Nein«, entgegnete Aranwir. »Ich habe immer nur meine Macht gebraucht, wie sie mir von Gott geschenkt wurde.«
»Von Gott geschenkt!«, rief Kelric bitter. »Um damit zu töten! Ich fordere Euch heraus, Aranwir! Stellt Eure göttliche Magie gegen die meine, die gegen die Schwarzen Mächte siegte!«
Aranwir schüttelte langsam den Kopf. »Kein Gott darf seine Kräfte auf weltlichem Boden voll entfalten, Lord Kelric, das wissen wir beide. Ihr fordertet ihn in Wolfsgestalt heraus, der er ebenso begegnen musste. Ich aber bin ein Mensch wie Ihr, nur unendlich viel älter. Meine Macht ist größer als die Eure, Kelric, viel größer. Es gab und wird niemals einen Zauberer geben, der mir an Magie gleichkäme.«
Kelric biss die Zähne zusammen; er spürte, wie sein Hass unter der Milde und Güte des Zauberers langsam schwand, und Zuneigung erwachte in ihm, so heftig er sich auch dagegen wehrte. Er begriff, dass er nun das erste echte Duell seines Lebens ausfocht, mit einer größeren Versuchung als jemals zuvor. Doch als er daran dachte, dass Melwin vielleicht ebenso der Ausstrahlung des alten, schwach wirkenden Mannes erlegen war, wurde sein Verstand wieder klar.
»Das ist noch nicht erwiesen, ob Ihr stärker seid als ich. Nur ein Kampf kann das entscheiden«, sagte er ruhig. »Ich habe Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass man unausweichlichen Dingen nicht entkommen kann.«
Aranwir nickte. »Ich habe mir immer gewünscht, dass Ihr endlich zu mir kämt. Ich hätte Euch so viel zu sagen, Kelric, aber wie kann ich zu einem Mann sprechen, dessen Herz von Hass beherrscht wird? Gebt mir eine Gelegenheit zu sprechen, ich bitte Euch!«
»Nein«, lehnte Kelric ab. »Ich spüre Gefahr.«
»Gefahr? Woher, Kelric? Hier bedroht Euch nichts. Ich habe einen so starken Schutz gewoben, dass nicht einmal ein Gott Einblick findet in meine Gemächer. Nur so war es möglich, einen großen Plan aufzubauen. Einen Plan, die Weltherrschaft zu erringen. Es dauerte Jahrtausende, aber ich bin meinem Ziel sehr nahe.«
»Dann seid Ihr selbst die Gefahr, die mich bedroht – und meine Frau. Aranwir, gebraucht keine Worte mehr!«
Aranwirs Miene zeigte Trauer. »Ihr wollt Euch nicht umstimmen lassen?«, fragte er leise.
Kelric verlor die Beherrschung. »Habt Ihr auch so mit Melwin gesprochen«, schrie er, »bevor Ihr ihn umbrachtet?«
Aranwir fuhr hoch. »Melwin? Aber ... « Dann hellte sich seine Miene plötzlich auf. »Ihr wisst immer noch nicht ... das ist eine wunderbare Nachricht!«
»Ich weiß nicht«, unterbrach Kelric scharf und sehr laut, »ich weiß nicht, wofür Melwin starb! Wenn Ihr schon reden wollt, so nennt mir diesen Grund ... den ich vielleicht glauben will.«
Aranwir schüttelte den Kopf und lächelte fein. »Ich weiß keinen Grund, mein Lord. Warum sollte ich Melwin umbringen? Ich habe ihn schließlich aufgezogen und geliebt wie meinen eigenen Sohn.«
Kelric wurde kreidebleich und wankte. »Wie ...«, krächzte er heiser. »Melwin ist nicht ... nicht ... «
»Nicht tot, mein Junge«, grinste Aranwir vergnügt. »Dass nicht einmal Elwin wusste, dass er lebt, zeigt, wie gut wir gearbeitet haben.«
Kelric stand völlig starr und mit offenem Mund, als er eine Bewegung im Rücken spürte, und er drehte sich um und blickte in Melwins lächelndes Gesicht. Der Zauberer war über sechzig Jahre alt, aber er sah aus wie höchstens Vierzig.
»Verzeih mir«, sagte er leise. »Verzeih mir, dass ich dir diesen Schmerz antat, aber es war die einzige Möglichkeit, dich herzubringen. Wir wussten keinen anderen Ausweg mehr.«
»Melwin ...«, flüsterte Kelric kraftlos, dann umarmten sie sich.
»Komm her, Mädchen!«, forderte Aranwir Gorwyna auf, die ganz entgeistert dastand. »Sie brauchen ein wenig Zeit füreinander, wie du dir denken kannst.« Gehorsam holte sie einen Stuhl und setzte sich zu ihm; er nahm vorsichtig eine Hand und streichelte sie sanft. »Wenn dich meine weißen Augen erschrecken, sag es«, bat er. »Ich kann
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