Vaclav und Lena
konnte.
Die Lücken füllen
Vaclav wacht früh am nächsten Morgen auf und zieht sich in seinem Zimmer an. Er beschließt, sich nicht die Zähne zu putzen, nicht zu duschen, nicht einmal zu pinkeln. Er will mit Rasia nicht sprechen. Wenn er ins Bad geht, wird sie ihn hören und wird wissen, dass er auf ist und sich fertig macht, und sie wird versuchen, ihn aufzuhalten. Er wird bei McDonald’s auf die Toilette gehen und sich ein Päckchen Kaugummi kaufen. Nichts wird ihn daran hindern, zu Lena zu gehen.
Als er die Tür seines Zimmers öffnet, steht seine Mutter vor ihm wie eine Wand.
|313| »Du schleichst dich davon«, sagt sie. Ihre Stimme ist betont russisch, so als wäre sie vom KGB. Er starrt sie bloß wütend an. »Du hast vor, zu Lenas Haus zu schleichen, um mit ihr zu reden.«
»Mama, lass mich einfach gehen.«
»Hör zu, warte. Alles, was ich sage, ist, das hier ist ein Riesenknäuel von Problemen, okay? Du, ich, Lena, ihre Familie, ein einziger Schlamassel. Bild dir bloß nicht ein, dass es nur dieses eine Problem gibt. Das ist alles.«
»Mach Platz«, sagt er.
»Warte. So warte doch. Lena möchte wissen, wo ihre Eltern sind, nicht wahr? Dafür braucht ihr nicht nach Russland zu fahren. Wir leben praktisch in Moskau, Vaclav.«
»Mama, warum reden wir darüber? Ich werde mit Lena reden.«
»Weil es dumm ist, nach Russland zu reisen, wenn doch alle hier sind.«
»Ich will nicht nach Russland reisen, okay? Ich gehe nach Park Slope«, sagt Vaclav.
»Wenn Lena über ihre Eltern Bescheid wissen will, dann sollte sie ihre Tante fragen.«
»Was?«
»Lenas Tante Yekaterina, sie wohnt auf der Siebten.«
»Weiß ich. Ich habe Lena dort jeden Tag abgeholt, um mit ihr zur Schule zu gehen. Moment mal, sie wohnt noch immer dort?«
»Ja, natürlich.« Rasia sagt das, als würde nie jemand umziehen. Als hätte Vaclav gefragt, ob die Tante immer noch denselben Kopf hat oder ob sie ihn für einen besseren, netteren Kopf in Zahlung gegeben hat.
|314| »Lena hat gesagt, sie ist weg … Lena hat gesagt, sie lebt in Russland.«
»Lena hat viele Probleme«, sagt Rasia. Sie kann sehen, dass Vaclav gerade im Begriff ist, etwas zu verstehen. Sein Gesicht hat einen verletzten Ausdruck.
»Sie hat mich angelogen«, sagt er, »ich werde mit Yekaterina sprechen.«
»Okay«, sagt sie, ohne sich zu rühren. »Okay. Ich möchte, ja, ich möchte, dass du die Wahrheit herausfindest und verstehst. Ich werde dich nicht aufhalten«, sagt sie und hält ihn auf. »Ich möchte bloß, dass du tief Luft holst und nachdenkst, was du sie fragen möchtest, über was du mit ihr reden möchtest, was du ihr zu sagen hast. Weil es schlecht ist, im Zorn zu reden.«
»Okay.«
»Ich möchte aber, dass dir klar ist, dass sich damit nichts regeln wird. Es gibt keine Wunderlösung. Lena hat viele Probleme. Du kannst das nicht einfach alles …« Er unterbricht sie.
»Ich weiß, Mama«, sagt er und nach einer Pause: »Danke.«
Vaclav drängt an ihr vorbei, und seine langen Beine tragen ihn schneller als erwartet zur Tür hinaus in den Morgen.
Während Vaclav zum Haus der Tante geht, wünscht er sich, dass der Weg länger wäre. Er wünscht sich, dass er nicht mehr so genau wüsste, wo das Haus ist. Er wünscht sich eine ganze Menge. Und er wünscht sich, ihm wäre früher bewusst geworden, dass es erst 7 Uhr 30 ist.
Wie bei einer Achterbahnfahrt kommen Fragen herangestürzt: Warum hat sie ihre Suche nicht bei der Tante angefangen? Warum hat sie gelogen? Was sollte die Reise nach Russland?
|315| Doch als er die Morgenluft einatmet und über das nachdenkt, was er jetzt weiß, ergibt alles einen Sinn. Die Tante aufzusuchen, wäre schrecklich für Lena, und es wäre schwer, mit ihr zu reden und Fragen zu stellen. Es ist nur verständlich, ja mehr als verständlich, dass Lena nicht dorthin zurück möchte.
Doch Lenas Lügen arbeiten in seinem Gehirn wie Maden, die Dinge zu Madendreck zersetzen und aus festen Gehirnzellen heiße Lachen der Eifersucht, des Misstrauens und des Argwohns machen. Er fragt sich, ob Lena ihn auch bei anderen Dingen belogen hat. Wie kann man überhaupt etwas wissen und handeln, wenn man die Wahrheit nicht kennt? Er hat Lena nie angelogen. Lena hat ihn dazu gebracht, für sie zu lügen. Sie hat ihn dazu gebracht, seine Mutter zu belügen und vielleicht nicht nur das. Vielleicht. Schwer zu sagen. Wenn das Lügen aus deinem Gehirn Madendreck macht, fällt es schwer zu entscheiden, was oben ist und was
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