Wiedersehen macht Liebe (German Edition)
1
Mai 2003
University of Illinois, Urbana-Champaign
Sie hatte überlebt.
Den Rücken an die holzgetäfelte Wand der Bar gelehnt und das Kinn auf eine Hand gestützt, lauschte Rylann Pierce, wie ihre Freunde um sie herum plauderten. Sie alle waren äußerst zufrieden, zum ersten Mal seit einem Monat einfach mal an nichts denken zu müssen.
Zusammen mit fünf ihrer Jurakommilitonen saß sie an einem vollen Tisch im oberen Stockwerk des Clybourne , einer der wenigen Studentenkneipen, die auch von den anspruchsvollen höheren Semestern frequentiert wurden, die ihre verwässerten Vier-Dollar-Drinks in richtigen Gläsern statt in Plastikbechern serviert bekommen wollten. Jeder in der Gruppe hatte das gleiche Hauptfach wie Rylann, was bedeutete, dass sie alle an diesem Nachmittag ihre letzte Prüfung in Strafprozessordnung abgelegt hatten. Die Stimmung war ausgelassen und übermütig – zumindest für Jurastudenten – und wurde nur von gelegentlichen Tiefs unterbrochen, wenn jemandem während der obligatorischen Prüfungszusammenfassung ein Punkt einfiel, den er oder sie vergessen hatte.
Jemand stieß ihren Ellbogen an und unterbrach damit ihre Träumerei. »Hallo? Jemand zu Hause?«
Die Frage kam von Rylanns Mitbewohnerin Rae Mendoza, die rechts neben ihr saß.
»Ich bin hier. Hab mir nur vorgestellt, wie ich am Pool liegen werde.« Rylann bemühte sich, das Bild noch ein wenig länger aufrechtzuerhalten. »Die Sonne scheint, und es sind fünfundzwanzig Grad. Ich habe irgendeinen tropischen Cocktail mit einem dieser kleinen Schirmchen darin in der Hand und lese ein Buch – eines, in dem ich weder etwas unterstreichen noch am Rand zusammenfassen muss.«
»Solche Bücher gibt es?«
»Wenn ich mich richtig erinnere, ja.« Rylann warf Rae einen verschwörerischen Blick zu. Wie viele ihrer Kommilitonen hatten auch sie fast jede freie Minute der letzten vier Wochen damit zugebracht, Kursunterlagen und Textbücher durchzuackern, Übungstests zu schreiben, nächtelang in das Standardwerk Emanuel Law Outlines zu starren und sich in Lerngruppen zu treffen – alles als Vorbereitung auf vier dreistündige Prüfungen, die dabei helfen würden, den Verlauf ihrer zukünftigen juristischen Karrieren zu bestimmen. Was ja nun wirklich überhaupt keinen Druck aufbaute.
Es hieß, das zweite und dritte Studienjahr würden beträchtlich einfacher werden, was gut wäre, denn es gab da diese interessante Aktivität namens Schlafen , von der Rylann gehört hatte und die sie mal ausprobieren wollte. Und es war perfektes Timing. Sie hatte eine freie Woche, bevor ihr Sommerjob anfing, und während dieser hatte sie nichts Anstrengenderes vor, als sich jeden Mittag aus dem Bett zu rollen und sich an dem für Studenten zugänglichen Außenschwimmbecken der Universität zu fläzen.
»Ich lasse deine Tagtraumblase nur ungern platzen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Alkohol im IMPE verboten ist«, sagte Rae, die sich damit auf die Sportfakultät der Uni bezog, auf deren Gelände sich besagtes Schwimmbecken befand.
Rylann tat solch lästige Einzelheiten mit einer winkenden Geste ab. »Ich fülle einfach einen Mai Tai in meine Thermoskanne mit dem Logo der Uni und behaupte, dass es Eistee ist. Wenn mir der Campussicherheitsdienst Schwierigkeiten macht, verscheuche ich ihn einfach mit meinem juristischen Fachwissen, indem ich ihn daran erinnere, dass der Vierte Zusatzartikel illegale Durchsuchungen und Beschlagnahmungen verbietet.«
»Wow! Weißt du, dass du gerade wie die weltgrößte Jurastreberin geklungen hast?«
Leider wusste sie es durchaus. »Glaubst du, dass wir jemals wieder normal werden?«
Rae dachte kurz darüber nach. »Ich habe gehört, dass man ungefähr im dritten Jahr den Drang verliert, in alltäglichen Unterhaltungen ständig die Verfassung zu zitieren.«
»Das klingt vielversprechend«, erwiderte Rylann.
»Aber da du eine größere Jurastreberin als die meisten bist, wird es bei dir wahrscheinlich länger dauern.«
»Erinnerst du dich daran, wie ich dir gestern Abend gesagt habe, dass ich dich den Sommer über vermissen werde? Das nehme ich zurück.«
Rae lachte und legte ihren Arm um Rylanns Schulter. Jetzt, da die Prüfungen endlich vorbei waren, fuhren Rae und fast alle ihre Freunde nach Hause. Rae würde die nächsten zehn Wochen in Chicago verbringen und als Barkeeperin arbeiten. Das klang nicht nur glamourös und lustig, sondern würde auch die Studiengebühren fürs nächste Jahr decken. Rylann
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