Vaclav und Lena
etwas anderes ist, irgendetwas ganz anderes.
»Das sind unaussprechliche Dinge! Du weißt, was es ist. Vaclav, straf mich nicht, indem du mich dazu bringst, es zu sagen! Es tut mir leid, ich musste tun, was ich getan habe, es ist schwer genug, damit zu leben, und weiß der Himmel, ich hab’s versucht.« Rasia und Vaclav weinen jetzt beide, und Oleg blickt drein, als schaute er sich eine Seifenoper in einer fremden Sprache an.
»Was hast du gewusst? Was hast du gesehen?«, sagt Vaclav ruhig. Er weigert sich, es zu glauben. Weigert sich, es zu verstehen. Er ist die Stille, bevor die Bombe explodiert. Das Tick, Tick, Tick, Tick vor dem Knall.
»Vaclav, sie war ein Kind, und niemand hat sich um sie gekümmert, es war eine schlimme Situation. Was möchtest du noch von mir hören?«
»Dass es nicht wahr ist«, sagt Vaclav.
»Vaclav, was für eine Rolle spielt das jetzt?«
»Du musst es mir sagen. Als sie wegging, hast du einfach so getan, als hätte es sie nie gegeben, aber ich war bloß ein kleiner Junge, und es hat mir das Herz gebrochen«, schreit Vaclav, er |307| kann nicht anders. Er schreit es heraus und schnappt dann nach Luft. »Sie war fort, und es hat mir das Herz gebrochen. Ich muss es einfach wissen, sie war hier, und dann war sie so lange weg, aber ich habe nie aufgehört, an sie zu denken, nie, und dann war sie zurück, und jetzt ist sie wieder weg, und ich kann es nicht ertragen. Bitte, Mama, bitte, Mama, bitte, Mama …« Seine Stimme verstummt, er ist außer Atem.
Er fragt sie nach dem, was passiert ist, aber er weiß es schon. Er bittet sie, es nicht wahr sein zu lassen.
»Vaclav«, sagt Rasia.
»Bitte, sag mir, was passiert ist.«
»Ich habe es dir gesagt.«
»Nein«, sagt er.
»Dieser Mann, er hat ihr Schreckliches angetan …«
»Nein.«
»Ich habe es vermutet«, sagt sie.
»Nein.«
»Ich war mir nicht sicher. Sie war krank, ist nicht zur Schule gegangen, und ich habe mir Sorgen um sie gemacht, sie war so dünn, und sie hat schlecht gegessen. Erinnerst du dich? Mal hat sie gar nichts gegessen, und dann wieder alles. Ich habe mir gedacht, etwas kann da nicht stimmen, und es ist niemand da, der sich um sie kümmert, und so bin ich dorthin gegangen, um nach ihr zu schauen, ich kam in die Wohnung, und ich habe es gesehen«, sagt sie.
»Nein.«
»Ich habe ihn gesehen«, sie wählt ihre Worte mit Bedacht, entsetzt, »ich habe ihn dabei erwischt.«
»Nein«, schreit Vaclav. »NEIN. NEIN. NEIN. NEIN.« Aus |308| seinem Aufschrei werden gellende Schreie, und aus seinen Schreien Blitze, die alte Bäume sprengen, und aus den Blitzen werden Kontinente, die auseinanderreißen, und daraus wird die Erde, die sich in zwei Hälften spaltet, und der Himmel zerrt sich los von der Erde, die Dunkelheit vom Licht.
Vaclav läuft aus der Küche in sein Zimmer und lässt seine Mutter mit seinem Vater dort sitzen, allein.
Oleg setzt sich neben Rasia an den Tisch und nimmt ihre Hand in die seine.
»Ich habe mein Bestes getan«, sagt Rasia zu dem Raum, zu ihrem Mann und zu sich selbst.
Nicht vergessen, sich wieder erinnern, wieder vergessen, sich nicht erinnern
Lena kommt nicht zu Atem. Sie kann nicht unsichtbar machen, was sie sieht. Lena beschließt in der U-Bahn , dass sie nie jemandem davon erzählen wird. Sie möchte es Vaclav nicht sagen und auch nie wieder mit ihm sprechen. Sowieso wäre es unmöglich, es jemandem zu sagen, sie könnte die Dinge, die sie im Geiste sieht, ohnehin nie verscheuchen, selbst wenn sie ihnen Worte gäbe und sie damit entließe. Sie entscheidet sich fürs Vergessen. Fürs Wiedervergessen. Sie wünscht sich, sie könnte ihr Gehirn abstellen. Sie versucht, nicht zu denken, überhaupt nichts zu denken, aber das Gefühl, dass Hände sie niederdrücken und |309| ihr die Knie auseinanderzerren, ist in ihrem Körper und verschwindet nicht.
Lena sieht ständig Rasias Gesicht vor sich, nicht das Gesicht von heute, sondern das Gesicht im Türrahmen in dem Haus ihrer Tante, damals, als Lena neun Jahre alt war. Sie kann sich jetzt erinnern, dass sie wusste, dass Rasia gekommen war, um sie zu retten, und sie erinnert sich daran, wie das Entsetzen in Rasias Gesicht sie erschreckt hat.
Ein Gefühl, das sie nur zu gut kennt, regt sich, so als hätte sie etwas Abscheuliches gemacht. Sie sagt sich, dass nichts davon ihre Schuld ist. Es ist nicht ihre Schuld, dass Rasia gewusst hat, dass sie allein im Haus mit Yekaterina und deren Freund war, Nacht um Nacht, schutzlos und
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