Vaclav und Lena
verwundbar. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie als Lena geboren wurde. Sie muss sich fernhalten von der Welt dort, von dem Ort, der Zeit, fern von allem Verletzenden und all dem Durcheinander, fern von Vaclav und Rasia, deren Gesicht Teil der widerlichen Endlosschleife in ihrem Kopf ist, Rasia wird sie nur an alles erinnern. Es war besser, bevor sie dorthin zurückkehrte, bevor die Erinnerung einsetzte. Sie sollte bei Em bleiben und froh in die Zukunft gehen. Bei Kamillentee und mit Ems Freundinnen, die prima Bio-Erzeugnisse vorbeibringen. Mit Ems Freundinnen, die draußen sitzen und die Sterne betrachten und Wein trinken und über die Männer herziehen. Mit Ems wirklich großartiger Musik, mit den soliden, antiken, französischen Landhausmöbeln, den Steppdecken und den Kronleuchtern.
Lena sitzt in der U-Bahn , auf dem Weg zu Schönerem, und sie beginnt zu vergessen. Emily ist eine Göttin, die auf die Erde gekommen ist und sie gerettet hat. Sie ist die Sonne, um die |310| Lena für den Rest ihres Lebens kreisen wird. Sie ist der Mittelpunkt von Lenas neuer Kosmologie. Lenas leibliche Eltern existieren nicht. Vaclav existiert nicht, Rasia existiert nicht. Ihre Tante existiert nicht, und der Mann existiert nicht. Emily ist ein Bollwerk des Vertrauens, der Wärme und Geborgenheit, sie ist es immer gewesen und wird es immer sein. Lena ist wiedergeboren und bewegt sich in ihrer Bahn unter der Erde auf die Sonne hin, sie fühlt nichts.
Als Lena heimkommt, schlägt ihr beim Türöffnen der Geruch ihres Zuhauses entgegen, er ist so frisch und klar wie offene Fenster und Shampoo.
Lena trifft Em in der Küche an. Sie liest am Fensterplatz. Etwas köchelt auf dem Herd, Gemüsesuppe, nichts aus der Dose, keine deftige Wintersuppe, kein Borschtsch, nur eine leichte Gemüsesuppe, die goldgelb und perfekt sein wird, mit Möhren und Kürbis und hellgrünen Zucchini, und Em wird sie in einen großen Steinguttopf füllen, sie ist eine Alternative, und sie wird knuspriges Brot bereitstellen, und es wird Wein geben, von dem Lena probieren darf.
Es ist gedeckt, und Blumen stehen auf dem Tisch. Nicht die üblichen Blumen, es ist ein Blütenzweig von einem Baum. Em blickt von ihrem Buch auf und sieht, wie Lena die Blumen anschaut.
»Ich habe heute einen Spaziergang gemacht, und ich konnte einfach nicht widerstehen. Ist er nicht einfach umwerfend? Ich habe den Zweig abgebrochen und dabei gedacht, ›wenn das hier jeder macht, gibt es für niemanden Blumen‹, aber trotzdem. Ich habe ihn beim Rückweg in meiner Einkaufstasche versteckt und hatte solche Angst, als würde man mich gleich verhaften.«
|311| Em sieht Lenas Gesichtsausdruck und steht auf. Sobald sie sagt: »Was ist los?«, zerbricht Lena wie ein Ei, das auf den Boden fällt.
Lena beginnt mit dem Weiterleben
In seinem Zimmer wählt Vaclav die Telefonnummer.
Die Person am anderen Ende nimmt den Hörer ab, noch lachend und sagt »hallo«. Die Stimme ist warm und ungezwungen. Im Hintergrund spielt Musik.
»Hallo, störe ich gerade?«, sagt Vaclav. Wie ungeschickt, so anzufangen. Er wollte das gar nicht sagen.
»Nein, gar nicht, wir haben uns gerade zum Abendessen hingesetzt. Keine Sorge. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ähh, hier ist Vaclav, ich rufe wegen Lena an, könnte ich sie bitte sprechen«, aber die Dame hat ihn nicht gehört.
»Tut mit leid, wer ist da?«
»Ich heiße Vaclav.«
»Lena kann nicht ans Telefon kommen«, sagt sie, und ihre Stimme ist mit einem Mal ernst, doch dann fügt sie mitfühlend hinzu, »tut mir sehr leid«, und legt auf.
Erst nachdem sie aufgelegt hat, kommt es Vaclav in den Sinn, dass die angenehme, warme Stimme die von Lenas Mutter gewesen sein musste, ihrer neuen Mama, ihrer wirklichen Mama, ihrer Adoptivmutter, was immer.
|312| Vaclav ist aufgebracht, dass sie ihn nicht mit Lena hat sprechen lassen. Er muss sich in Erinnerung rufen, dass sie seit zehn Jahren Lenas Mama ist und Lena wahrscheinlich besser kennt als er, und das ist traurig für ihn. Und plötzlich ist für ihn alles traurig, sein einsames und dunkles Zimmer, seine in der Küche weinende Mama, das grausame Glück in Lenas Zuhause, die Dunkelheit draußen, alles erscheint nur noch einsam.
Emily geht zu Lena zurück, die in eine Decke gehüllt auf dem Sofa sitzt. Auch wenn es Emily das Herz brach, als Lena ihr sagte, sie könne die Erinnerung nicht ertragen, könne nicht weiterleben, wusste Emily, dass Lena in Wahrheit weiterleben konnte, dass sie endlich damit beginnen
Weitere Kostenlose Bücher