Vaethyr: Die andere Welt
weißt du, Rosie …« Er verschränkte seine Arme. Die Ärmel seines überlangen weißen Hemds waren aufgekrempelt und er hatte Gänsehaut auf seinen langen, blassen Unterarmen. »Du verstehst das doch mit den Toren. Außer Lawrence kann mir keiner helfen.«
»Dad glaubt nicht, dass du bei ihm gut aufgehoben bist.«
»Das ist Unsinn. Er ist mein Vater.«
»Hat Lawrence dich eingeladen?«
»Nein«, antwortete Lucas seufzend. »Anfangs wollte er mich gar nicht reinlassen. Aber ich muss einfach eine Weile bei ihm bleiben.«
»Er hält dich aber nicht fest, oder?«
»Nein, natürlich nicht! Sieh doch – ich könnte jetzt auch rausgehen, wenn ich das wollte, aber ich will es nicht.«
Rosie hätte gern ihre Arme um ihn geschlungen, um ihn dann ganz aus dem Haus zu zerren. Doch sie hielt sich zurück. »Du machst einen halb erfrorenen und halb verhungerten Eindruck. Das ist nicht die beste Art, wieder zu Kräften zu kommen. Warum kommst du nicht nach Hause in die Wärme? Du kannst Lawrence doch jederzeit sehen.«
Sein Gesicht verschloss sich. Er wollte ihr nicht in die Augen schauen. »Du magst zwar denken, ich sei noch immer dreizehn, Rosie, aber ich bin erwachsen. Wenn ich hierbleiben will, dann bleibe ich auch. Bitte versteh das. Ich möchte doch nichts weiter als meine Ruhe, damit ich die Dinge klarer sehe.«
»Für wie lang?«
»So lange es dauert!«
Sie zog sich zurück. Wenn sie mehr sagte, würde das Gespräch in Flehen und Türschlagen enden. »Versprich mir, dass du, wenn du dich nicht wohlfühlst, Lawrence dazu bringst, einen Arzt und auch uns anzurufen.«
»Das verspreche ich. Mir geht es gut.«
»Ich sollte dir wohl besser was zum Anziehen bringen. Gibt es noch was, was du gerne hättest? Deine Gitarre?«
Er sah sie verdutzt an. »Würde es dir was ausmachen?« Er senkte seine Stimme. »Wenn ich selbst käme, würde Mum mich bedrängen, doch zu bleiben, und das würde ich nicht ertragen.«
»Weißt du, wenn du wie ein Erwachsener behandelt werden möchtest, dann wirst du dich irgendwann auch solchen Problemen stellen müssen«, erwiderte sie trocken.
»Ja.« Er senkte den Kopf und seine Haare rutschten nach vorne. »Gib mir ein paar Tage, Ro. Mir geht es wirklich gut. Ich werde nach Hause kommen, wenn ich dazu bereit bin. Halt bitte Mum und Dad von mir fern, okay? Es tut mir leid.« Er hob eine Hand und winkte matt, ehe er die Tür schloss. Sie hörte, wie drinnen die Riegel vorgeschoben wurden. Sie ging zu ihrer Familie.
»Ihr habt wohl alle mitgehört?« Sie nickten. Jessica war bleich. »Er hat recht, wir können ihn nicht zwingen. Lasst uns nach Hause gehen.« Was ist Liebe überhaupt? , las Rosie in Faiths Tagebuch. Ich weiß, dass Rosie Alastair nicht liebt. Er liebt sie schon, wie ich glaube, aber es ist nicht das, was sie sich erhofft hat. Doch sie lässt sich treiben, als könne sie nicht mehr erwarten, und macht das Beste daraus. Ich liebe Matthew, aber er liebt mich nicht. Alles ist genau so, wie ich es mir immer erträumt habe, bis auf diese kleine Tatsache, dass er mich nicht liebt, und das ist, als würde man jeden Tag auf humpelnden Beinen gehen und dazu noch eine Hand auf den Rücken gebunden haben. Es schmerzt so sehr, dass man sich gar nicht richtig bewegen kann, aber man muss den Schein wahren. Heather hingegen – sie ist Liebe.
Ich frage mich, ob meine Eltern sich geliebt haben. Nein, ihre Seelen waren tot. Sie waren Halb-Elfenwesen, wussten es aber nicht. Und sie tauchten in die Schattenreiche, sogar in Dumannios, ein und verwandelten sich in schuppige Dämonen und bekämpften einander, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein! Wie ist das möglich? Hätten sie womöglich richtige Elfenwesen werden können, wenn sie sich nicht in der Menschenwelt verloren und ihre Seelen durch Suff und Bitterkeit abgetötet hätten? Wenn ich an sie denke, möchte ich am liebsten nur noch weinen. Ich möchte nicht, dass Matthew und ich so werden, aber ich sehe es kommen.
Rosie blätterte zurück zu einem früheren Eintrag .
Heute Abend bin ich glücklich davongekommen. M. kam herein, während ich Heather badete. Der Schaum war fast verschwunden und sie war grün im Wasser, blassgrün schimmernd wie ein Schmetterlingsflügel. Plötzlich tauchte er auf und ich dachte, er muss sie sehen – sie saß direkt vor ihm. Ich bekam Panik und warf ein Handtuch auf sie, doch ich war so ungeschickt, dass es auf ihrem Kopf landete. Er starrte mich an und sagte: »Was um Himmels willen machst du
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