Vaethyr: Die andere Welt
»Das ist wunderschön«, sagte Auberon. »Etwas ganz Ausgefallenes. Ich habe versucht mich zurückzuhalten, während du daran gearbeitet hast.«
»Es freut mich, dass es dir gefällt. Eigentlich solltest du außen herumgeben, aber ich sehe es dir nach.«
»Eine Spirale zu gehen, ist wie das Betreten eines magischen Pfads«, sagte Auberon trocken. »Man beschwört damit die Anderswelt herauf. Aber das weißt du vermutlich, sonst hättest du ihn nicht so angelegt.«
»In diesem Fall muss der Sprung über die Blumenbeete als Provokation des Spiral Court verstanden werden«, konterte sie. »Es gibt keinen Damm, der hätte die Linienführung gestört.«
»Genau.« Er hockte sich auf einen kleinen Granitstein und legte seine Unterarme auf den Knien ab. »Es ist sehr friedlich hier. Wie in einem Zen-Garten.«
Rosie schlug das Tagebuch auf und sagte: »Hör dir das an, Dad.«
Ich sehe eine Stadt aus glänzendem schwarzem Stein, der in allen Edelsteinfarben schillert: Purpurrot, Kardinalsviolett und Blau. Ich sehe labyrinthische Passagen und Räume, in denen man sich Tage und Monate verlieren kann.
Luftige Säulen. Balkone in einer kristallklaren Nacht voller Sterne, große weiße Galaxien, die an Blumen erinnern. Statuen von Flügelmännern, die mit zeitlosen Augen herabschauen. Ich möchte auf diesen Balkonen stehen und den Windhauch schmecken und die Sterne singen hören und im Mondlicht baden. Es wird dort Planeten geben, die von Ringen umgeben sind, und darunter bewegen sich sanft die Spitzen fedriger Bäume. Ein unentdecktes Land voller Flüsse, Birken in Frühlingsgrün, dazu Eiche und Hasel – und deren Elementarwächter, schlanke birkenweiße Damen mit weichem haselnussbraunem Haar – und bemooste Ufer, die ins Wasser abfallen.
Und durch diese Zitadelle wandern anmutige Männer und Frauen mit hübschen lang gestreckten Gesichtern und ruhigen, wissenden Augen – die schalkhaft aufblitzen – und sie sind perfekt und wissen es, und sie sind nicht perfekt und wissen es auch. Sie haben zu viel gesehen. Sie tragen vielleicht Kleider wie auf mittelalterlichen Wandbehängen oder Jeans und T-Shirts, aber niemals würde man sie fälschlicherweise für Menschen halten. Es gibt so viel mehr als Schönheit. Sieh sie dir einmal an und du kannst dich nicht mehr losreißen. Das sind die Elfenwesen in der ältesten Stadt, in Tyrynaia.
Sie haben Tausende von Jahren an dieser Zitadelle gebaut und sie wird nie fertig sein. Sie erstreckt sich nach oben und nach außen und nach unten in den Fels hinein. Es ist der Sitz ihrer Macht. Ihr Zuhause.
Gelegentlich nehmen sie die Namen von Göttern an.
Und manchmal sind sie heldenhaft und helfen der Welt.
Und manchmal sind sie boshaft und stellen sie auf den Kopf.
Einige könnten auch Vampire sein. Das ist schwer zu sagen.
In den tiefsten Tiefen der Zitadelle hängt über einem unterirdischen See eine Felsendecke und hier ist Persephones Kammer. Sie heißt jene willkommen, deren Seele vor Verzweiflung wund ist, und jene, die Trost, Ruhe und Schlaf suchen, und kümmert sich um sie. Hier brauchen sie nichts zu sagen, es reicht, sich auf den schwarzen Marmorrand zu setzen und die Füße auf das dicke Glas zu stellen, um den See und die leuchtenden Fische darunter zu betrachten, der ein Spiegelbild des weit entfernten Himmels darüber zu sein scheint. Wenn du dich verzweifelt niederlegst, wird sich Persephone zu dir legen.
Rosie hielt inne. »Findest du es nicht unglaublich, dass Faith etwas Derartiges schreiben konnte?«, sagte sie.
Auberon meinte kopfschüttelnd: »Die Frage lautet vielmehr, wie sie davon wissen konnte.«
»Spricht sie von etwas Realem?«
»Es heißt, es gäbe Städte, Tyrynaia und Celadon … Was wären die alten Elfenwesen, die Estalyr ohne eine sagenhafte Stadt?« Er schaute nach unten und tippte nachdenklich mit seinem Fuß.
»Ist alles okay mit dir, Dad?«
»Nein, nicht wirklich. Ich denke über mein Versagen nach. Immer habe ich versucht die Vaterfigur zu sein, die jedermanns Probleme löst. Dann stößt man auf etwas, das man einfach nicht richtig hinbekommt, und muss sich eingestehen, dass man ein genauso hoffnungsloser Fall ist wie alle anderen.«
»Du bist die am wenigsten hoffnungslose Person, die ich kenne, Dad, ganz ehrlich.«
»Ach, das ist alles nur gespielt. Seit Jahren habe ich vermutet, dass Matthew Probleme hat, aber weil er nicht um Hilfe gebeten hat, dachte ich, er käme klar damit. Und jetzt, da ich endlich zum Kern des Problems
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