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Vaethyr: Die andere Welt

Vaethyr: Die andere Welt

Titel: Vaethyr: Die andere Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Warrington
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Blut war kalt und klebrig. Sie fragte sich: Macht mich das jetzt zu einer von ihnen? Es gab kein Zurück mehr. Und so irrational es auch war, sie empfand es als einen entsetzlichen Verrat. Wie viel schlimmer es für Jon sein musste, konnte sie sich gar nicht vorstellen.
    »Ich werde der Jäger sein«, sagte Comyn. »Wer wird der Gejagte sein?«
    »Ich«, sagte Jon.
    »Oh – John, mein Lieber, bist du dir da auch sicher?«, platzte es aus Sapphire heraus. Sie hätte nichts sagen dürfen. Natürlich musste es Jon sein.
    Er reagierte auf ihre Besorgnis mit mürrisch aufblitzender Wut. »Ja, wer soll es außer mir auch sonst sein?«
    »Er ist dein Vater«, erinnerte sie ihn geduldig. »Du wirst das für den Rest deines Lebens mit dir herumtragen.«
    »Ja, und so soll es auch sein! Wer soll ihn denn zu Fall bringen, wenn nicht sein eigener Sohn? Es ist die ausgleichende Gerechtigkeit«, sagte er verbittert. »Wer außer mir kann es schon tun?«

~  23  ~
Die Tränen des gefangenen Gottes
    Lucas hatte Angst. Um dies zugeben zu können, hatte er Wochen gebraucht. Indem er es zugab, wurde es real.
    Lawrence unterrichtete ihn tatsächlich: Lektionen, die ihn den reinsten Schrecken vor den Toren und dem, was dahinter lag, lehrten. Er erklärte Lucas jeden Trick, wie er das Lych-Tor, die halben Tore oder sämtliche Verbindungsportale im Labyrinth öffnen konnte, um jedes der Reiche direkt betreten zu können … Waren die Großen Tore vollends geöffnet, dann war, wie Lawrence ihm erklärte, auch jedes andere Portal auf Erden geöffnet, sodass nichts mehr Brawth zurückzuhalten vermochte.
    Der Unterricht war reine Theorie. Lucas fragte sich, ob ihm wohl je erlaubt sein würde, tatsächlich die Tore zu berühren. Lawrence sah sich offenbar veranlasst, sein ganzes Wissen über ihm auszuschütten, was er jedoch mit ständigen Warnungen vor den Gefahren begleitete, sollte er vorhaben, die Theorie in die Praxis umsetzen zu wollen.
    Bei diesen Gelegenheiten pflegte Lawrence bis spät in die Nacht hinein zu reden. Luc musste ihn mit Kaffee und Essen versorgen, ansonsten nahm er nur Whiskey zu sich. Für gewöhnlich saßen sie in der Bibliothek, wo nur das Schreibtischlicht das höhlenhafte Dunkel erhellte und die hohen Gardinen sich bei jedem Luftzug bewegten.
    »Ich habe oft gedacht, der Eisriese sei nur ein Hirngespinst meines gestörten Verstandes«, erklärte Lawrence ihm. »Aber in der Spirale werden Träume wahr. Ich träumte von einem mythischen Feind und habe diesen geweckt. Und ich setzte alles daran, meine Söhne vor seinem Zorn zu beschützen, ganz besonders dich.«
    »Ich habe ihn gesehen«, erzählte Lucas ihm und beschrieb die riesenhafte Gestalt im Abyssus, den Eisnebel, der von seinen gebirgigen Flanken waberte. Als er an die Stelle kam, wo die Gestalt sich ihm zugewandt und angeschaut hatte, wurde Lawrence’ Gesicht grau.
    »Brawth hat dich gesehen. Dich gezeichnet. Er weiß, dass du mein Sohn bist. Gott sei Dank ist er nicht erwacht, um dich zu verfolgen. Deine Gegenwart und das offene Lych-Tor reichten nicht aus, um ihn zu wecken. Ich glaube, er wird nur aufwachen, wenn ich erscheine. Solange er seine steinerne Gestalt behält, sind wir sicher.«
    »Estel sagte, er sei schon immer da gewesen«, erzählte Lucas. »Vielleicht war es wirklich nur eine Statue und ich habe mir nur eingebildet, dass sie sich bewegt hat.«
    »Natürlich ist Brawth schon immer da gewesen.« Lawrence fixierte ihn mit funkelnden, eisgrauen Augen, die Pupillen klein wie Stecknadelköpfe. »Er ist der Schatten des Anfangs und des Endes der Zeit.«
    Anfangs fand Lucas diese Sitzungen aufregend. Er erlebte Lawrence als mächtigen Mann, der ihm vorkam wie der Herrscher des Universums, der aber dennoch all seine kostbare Aufmerksamkeit auf Lucas konzentrierte, als zähle sonst nichts auf der Welt. Das war sehr schmeichelhaft. Die Initiation musste schwer sein, aber sie bedeutete auch, dass er etwas Besonderes, ein Erwählter, war. Nach ein paar Wochen jedoch verblasste der Glanz. Und die Intensität, mit der Lawrence sich ihm zuwandte, wurde zermürbend und verstörend.
    Es gab auch erholsame Momente, wenn Lawrence ihn in seine Werkstatt hinter dem Arbeitszimmer mitnahm, wo er Albinitsteine schnitt. Doch auch dort grenzte die Art und Weise, wie er sich in jeden einzelnen Stein versenkte, an Obsession. Als Lucas ihn dazu befragte, folgte langes Schweigen, bis Lawrence schließlich kryptisch antwortete: »Mir hat einst jemand einen perfekten

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