Valley - Tal der Wächter
war steif und gebeugt wie ein Galgen, eine schlurfende Gewitterhexe, bei deren Anblick die Dienstmägde kreischend die Flucht ergriffen. Aber ihre mandelförmigen Augen blickten wach und sie war ein unerschöpflicher Quell des Wissens. Hal liebte sie heiß und innig.
Morgens brachte sie bei Kerzenschein die Schüssel mit warmem Wasser in Hals Zimmer, zwängte ihn nach dem Waschen in Jacke und Hose, kämmte ihn und brachte ihn zum Frühstück in die große Halle. Dort hielt sie sich in seiner Nähe auf, saß mit nickendem Kopf in der Sonne, während er auf dem Fußboden mit Holzklötzchen spielte. Meistens döste sie ein, worauf sich Hal prompt hochrappelte und davonwackelte, um die Zimmer hinter der Halle zu erkunden oder sich im Hof herumzutreiben, wo sich das Geläut von Grims Amboss mit dem Surren der Webstühle vermischte und von wo aus er die Männer hoch oben am Berghang arbeiten sehen konnte. Von Svens Hof aus sah man die Hügelketten auf beiden Seiten des Tales und die niedrigen, dunklen, unregelmäßigen Buckel, die sich oben auf den Hügelrücken erhoben. Hinter diesen Hügelgräbern lagen die sogar an klaren Tagen dunstig verhangenen Berge, deren steile weiß gesprenkelten Flanken sich weiter oben dem Blick entzogen.
Auf dem verwinkelten, weitläufigen Anwesen verlief sich Hal oft. Dann streunte er in Gesellschaft der Hundemeute vergnügt zwischen Werkstätten, Hütten, Schweinekoben und Viehställen umher, bis ihn der Hunger wieder in Katlas schützende Umarmung trieb. Abends aßen sie abseits von der übrigen Familie in der Küche, einem behaglichen Raum voller köstlicher Dämpfe und Düfte, mit breiten Bänken und zerschrammten Tischen, wo sich der Widerschein des Feuers in unzähligen aufgehängten Töpfen und Pfannen fing.
Dort erzählte Katla und Hal lauschte.
»Dein Aussehen hast du zweifellos von der väterlichen Seite geerbt«, sagte sie oft. »Du bist das Abbild deines Großonkels Onund, der damals, als ich noch ein Mädchen war, den Steilhang bewirtschaftet hat.«
Das musste unvorstellbar lange her sein. Es gab Leute, die behaupteten, Katla sei schon über sechzig.
»Onkel Onund...«, wiederholte Hal. »War er sehr stattlich, Katla?«
»Er war der hässlichste Mann der Welt und hatte einen dementsprechend äußerst schwierigen Charakter.Tagsüber war er einigermaßen umgänglich und eigentlich eher ein Schwächling, so wie du womöglich eines Tages. Aber nach Einbruch der Dunkelheit wuchsen ihm Bärenkräfte, und er hatte gelegentlich ungezügelte Wutanfälle, bei denen er erwachsene Männer durchs Fenster schleuderte und die Sitzbänke in seiner Halle zertrümmerte.«
Das fand Hal spannend. »Woher hatte er auf einmal solche Kräfte?«
»Überwiegend vom Saufen. Bis ihn eines schönen Tages ein wütender Pächter im Schlaf erwürgte. So unbeliebt war Onund, dass der Rat seinen Mörder lediglich zu einer Strafe von sechs Schafen und einer Henne verurteilte. Zu guter Letzt hat der Bursche auch noch Onunds Witwe geheiratet.«
»Ich glaub nicht, dass ich nach meinem Großonkel Onund komme, Katla.«
»So hochgewachsen wie er bist du schon mal nicht.Aber da – wie du grade eine Schnute ziehst und mich böse anfunkelst! Du bist Onund wie aus dem Gesicht geschnitten. Man braucht dich nur anzusehen, dann sieht man gleich, dass du wie er anfällig für das Böse bist. Du musst gegen die unseligen Triebe ankämpfen, die er dir vererbt hat.Aber erst einmal musst du deinen Kohl aufessen.«
Es dauerte nicht lange, bis Hal herausfand, dass seine Familie, Onund vielleicht ausgenommen, bei allen Angehörigen von Svens Haus überaus angesehen war. Das war einerseits durchaus vorteilhaft, da ihm sämtliche Türen offen standen. Er durfte nach Belieben zwischen den säuerlich riechenden Bottichen der Gerberin Unn umherschlendern und sich die aufgehängten, im Wind flatternden Häute besehen, er durfte in Grims heiße, dunkle Schmiede spazieren und zusehen, wie die Funken unter dem wuchtigen Hammer dämonengleich tanzten, er durfte sich zu den Waschfrauen an den Fluss hinter der Mauer setzen und ihrem Geplauder über Rechtsstreitigkeiten, Hochzeiten und andere Häuser weiter unten im Tal am Meer lauschen. An die fünfzig Leute lebten auf dem Anwesen, und als er vier Jahre alt war, kannte Hal jeden Bewohner mit Namen und zudem seine Eigenheiten und kleinen Geheimnisse. Dieses kostbare Wissen erwarb er sich viel müheloser als seine Geschwister.
Andererseits trug ihm seine Vorzugsstellung auch
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