Valley - Tal der Wächter
Hals und Wangen, ehe er alles Übrige mit einem kleinen Messer stutzte. Sein Schnurrbart war sorgsam gezwirbelt, sein Kinnbart immer auf die Länge seiner Zeigefingerkuppe getrimmt. Die übrigen männlichen Bewohner des Hofes folgten seinem Beispiel, nur Kugi, der Schweinehirt, nicht, denn auf dessen Kinn spross kein einziges Haar, auch wenn er schon erwachsen war – und Brodir. Brodir legte niemals Hand an seinen Bart. Sein Bart wucherte wie ein Ginstergestrüpp, in dem Krähen nisten, wie wilde Efeuranken, die einen Baum erwürgen. Hal war hingerissen.
»Sich den Bart zu stutzen, ist eine Unsitte aus dem Untertal«, verriet ihm Brodir. »Hier bei uns gilt das seit jeher als unmännlich.«
»Aber bis auf dich tun es alle.«
»Klar, die machen es deinem Vater nach, und der ist von Astrid beeinflusst, die von unten an den Flussbiegen stammt, wo die Leute so schütteres Haar haben, dass der Seewind es ihnen vom Kopfe bläst. Bei denen kommt es sowieso nicht drauf an, ob sie sich frisieren und rausputzen.«
Abgesehen von seinem Bart, war Brodir noch in vielen anderen Punkten grundverschieden von Hals Vater. Man konnte sich nur schwer vorstellen, dass die beiden überhaupt verwandt waren. Arnkel war kräftig, Brodir hingegen beinahe schmächtig zu nennen (auch wenn er zu einem Bierbäuchlein neigte) und er hatte ein pausbäckiges, teigiges Gesicht (»Das hat er auch von Onund geerbt«, lautete Katlas Urteil). Wo Arnkel Autorität ausstrahlte, hatte Brodir so gar nichts davon und schien auch noch froh darüber zu sein. Zwar war er der Zweitgeborene, aber er hatte nie einen der kleineren Höfe für sich beansprucht, die über die Ländereien von Svens Haus verstreut lagen. In seiner Jugend hatte er angeblich das ganze Tal bereist, inzwischen war er auf dem Hof sesshaft geworden, ging mit den Männern aufs Feld und trank allabendlich mit ihnen. So kam es, dass er an den meisten Abenden heiser und zu derben Scherzen aufgelegt oder aber schroff und abweisend war.Von Zeit zu Zeit schwang er sich auf sein Pferd Raufbold und blieb tagelang weg, bis er mit leuchtenden Augen und unglaublichen Geschichten im Gepäck wieder zurückkehrte.
Vor allem dieser Geschichten wegen liebte ihn Hal.
An Sommerabenden, solange Brodir noch nüchtern war und die untergehende Sonne noch die Bank vor der großen Halle wärmte, saßen sie dort nebeneinander, schauten zu den Südhängen hinauf und unterhielten sich. Dann ließ sich Hal von den fruchtbaren Flussbiegen erzählen, jener Gegend des Tals, wo sich der Fluss gemächlich dahinwälzte und das Vieh und die Bauern gleichermaßen wohlgenährt waren, er hörte von der breiten Flussmündung weiter unten, wo die Häuser auf hohen Steindämmen errichtet waren, sodass es beim Frühjahrshochwasser aussah, als trieben sie mitsamt ihren qualmenden Schornsteinen wie Boote oder Inseln auf den Fluten. Er erfuhr auch von den weiter oben gelegenen Nebenflüssen, wo sich das Tal zwischen Wasserfällen und Felsgeröll verlor, wo das Gras kargem Schiefergestein wich und außer Bergpiepern und Buchfinken keine Tiere mehr lebten.
Irgendwann landete Brodir aber immer beim bedeutendsten aller Zwölf Häuser, dem Geschlecht von Sven, und seinen Anführern, den Oberhäuptern und Schiedsherren, ihren Auseinandersetzungen und Liebesangelegenheiten und ihren Gräbern oben auf den Hügeln. Vor allem erzählte er von Sven selbst und von dessen unzähligen atemberaubenden Abenteuern, von dessen Streifzügen ins Hochmoor, als man dort noch hindurfte, und von der großen Schlacht am Troldfelsen, als er und die weniger bedeutenden Helden die Trolde zum Kampf forderten und sie aus dem Tal und in höher gelegene Gegenden vertrieben.
»Siehst du das Hügelgrab dort oben?«, fragte Brodir seinen Neffen dann immer und wies mit dem Becher in die Richtung. »Inzwischen sieht es beinahe wie ein ganz gewöhnlicher Hügel aus, mit dem ganzen Gras, das drauf wächst. Aber so begrub man damals alle Helden, auf dem Hügelkamm oberhalb ihres Stammsitzes. Weißt du, in welcher Haltung Sven begraben wurde?«
»Nein, Onkel.«
»Auf einem steinernen Sitz, das Gesicht dem Hochmoor zugewandt und das Schwert senkrecht in der Hand. Und weißt du auch, warum?«
»Um die Trolde abzuschrecken.«
»Richtig. Ein für alle Mal. Hat auch geklappt.«
»Gibt es denn auch noch woanders im Tal Hügelgräber?«
»Von der Flussmündung bis zum Steilgebirge, auf beiden Seiten.Wie brave Kinder tun wir es den Helden nach und verteidigen die Grenze.
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