Vampire Academy 03 ● Schattenträume
blutunterlaufene Augen. Ich sah aus, als hätte ich zu wenig geschlafen. Aber ich wollte nicht wieder ins Bett zurück.
Ich wollte es nicht jetzt schon riskieren, wieder einzuschlafen. Ich brauchte etwas, das mich richtig wach machte und die Eindrücke vertrieb, die sich mir so lebhaft mitgeteilt hatten.
Ich verließ das Bad und wandte mich dem Treppenhaus zu, um die Stufen leichtfüßig hinunterzugehen. Im Erdgeschoss meines Wohnheims war alles still und leise. Es war schon fast Mittag - für Vampire die Mitte ihrer Nacht. An einer Tür blieb ich stehen und ließ aus der Deckung des breiten Türrahmens den Blick über die Eingangshalle gleiten. Sie war leer, bis auf den gähnenden Moroi am Empfangstisch.
Er blätterte halbherzig in einer Zeitschrift, sein Bewusstsein hing offensichtlich an einem seidenen Faden. Er erreichte das Ende der Zeitschrift und gähnte wieder. Dann wandte er sich auf seinem Drehstuhl um, warf die Zeitschrift auf einen Tisch hinter sich und griff nach etwas, bei dem es sich um eine andere Lektüre handeln musste.
Während er mir den Rücken zukehrte, flitzte ich an ihm vorbei in Richtung der Doppeltüren, die ins Freie führten. Mit einem stummen Gebet, dass die Türen nicht quietschen mögen, öffnete ich vorsichtig eine von ihnen einen Spaltbreit, gerade weit genug also, um hindurchzuschlüpfen. Sobald ich draußen war, schob ich die Tür so sanft wie möglich wieder zu. Kein Geräusch. Der Mann konnte höchstens einen Luftzug gespürt haben. Ich kam mir wie ein Ninja vor, als ich in das Licht des Tages hinaustrat.
Kalter Wind schlug mir ins Gesicht, aber dies war genau das, was ich brauchte. Unbelaubte Äste schwankten im Wind und kratzten wie Fingernägel über die steinernen Mauern des Wohnheims. Die Sonne lugte zwischen bleifarbenen Wolken hervor. Ich blinzelte ins Licht, zog meinen Bademantel fester um mich und bog um die nächste Ecke des Gebäudes. Dort ging es zur Turnhalle, ein Weg, der etwas windgeschützt war. Der allgegenwärtige Schneematsch durchnässte mir langsam die Pantoffeln, doch das kümmerte mich nicht.
Ja, es war ein typischer, elender Wintertag in Montana, aber auch darum ging es nicht. Die frische Luft vertrieb meine Schläfrigkeit und die Überreste der virtuellen Liebesszene. Außerdem hielt sie mich in meinem eigenen Kopf fest. Es war besser, mich auf die Kälte in meinem Körper zu konzentrieren, als mich daran zu erinnern, wie es sich angefühlt hatte, Christians Hände auf meiner Haut zu spüren.
Als ich dort stand und eine Baumgruppe anstarrte, ohne sie wirklich zu sehen, war ich überrascht, eine Spur von Ärger über Lissa und Christian zu empfinden. Es musste doch schön sein, dachte ich voller Bitterkeit, tun zu können, was zur Hölle man tun wollte. Lissa hatte häufig bemerkt, dass sie wünschte, sie könne meinen Geist und meine Erfahrungen spüren, so wie ich ihre spüren konnte. Die Wahrheit war: Sie hatte keine Ahnung, wie viel Glück sie hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie es war, wenn die Gedanken eines anderen in die eigenen einbrachen, die Erfahrungen eines anderen die eigenen aufwühlten.
Sie wusste nicht, wie es war, das perfekte Liebesleben eines anderen zu durchleben, wenn das eigene Liebesleben gar nicht existent war. Sie verstand nicht, wie es sich anfühlte, von einer Liebe erfüllt zu sein, die so stark war, dass einem die Brust schmerzte - einer Liebe, die man nur fühlen, aber nicht ausdrücken konnte. Ich hatte erfahren, dass aufgestaute Liebe große Ähnlichkeit mit dem Gefühl von aufgestauter Wut hatte. Sie fraß einen von innen auf, bis man schreien oder nach etwas treten wollte.
Nein, Lissa verstand nichts von alledem. Sie brauchte es auch nicht. Sie konnte ihre eigenen romantischen Affären haben, ohne daran denken zu müssen, was sie mir damit antat.
Ich bemerkte, dass ich wieder schwerer atmete, diesmal vor Zorn.
Die Gereiztheit über Lissas und Christians spätnächtliche Knutscherei war verflogen. An ihre Stelle waren Wut und Eifersucht getreten, Gefühle, geboren aus dem, was ich nicht haben konnte, und dem, was ihr so mühelos zufiel. Ich versuchte mein Bestes, diese Gefühle wegzudrängen und zu ersticken; ich wollte meiner besten Freundin gegenüber nicht so empfinden.
„Schlafwandeln Sie?”, erklang eine Stimme hinter mir.
Ich fuhr erschrocken herum. Dimitri beobachtete mich, und er wirkte dabei ebenso erheitert wie neugierig. Das passte: Während ich wegen Problemen in meinem benachteiligten Liebesleben
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