Vampirgeflüster
war.
»Tray und ich werden heute Abend wohl in die Bar kommen«, sagte Amelia hastig, um die kleine Pause zu überdecken.
»Dann sehen wir uns also im Merlotte's.« Ich war schon seit Jahren Kellnerin dort.
»Oh, dieses Nähgarn hat ja die falsche Farbe«, rief Octavia und lief die Diele hinunter in ihr Zimmer.
»Und mit Pam triffst du dich gar nicht mehr?«, fragte ich Amelia. »Dann ist das mit Tray und dir also was Ernstes.« Ich steckte mein weißes T-Shirt noch etwas ordentlicher in meine schwarze Hose und blickte in den alten Spiegel über dem Kaminsims. Mein Haar war zwar zu einem Pferdeschwanz gebunden, wie immer zur Arbeit, aber ich entdeckte trotzdem ein langes blondes Haar auf meinem flammendroten Mantel und zupfte es ab.
»Pam war nur ein Strohfeuer, und sie sieht das sicher genauso. Aber Tray mag ich wirklich «, erzählte Amelia. »Das Geld meines Vaters scheint ihm egal zu sein, und es stört ihn auch nicht, dass ich eine Hexe bin. Und im Bett macht er mich richtig heiß. Es läuft also alles bestens.« Amelia grinste mich so breit an wie eine Katze, die gerade einen Kanarienvogel verspeist hat. Sie mochte ja aussehen wie eine dieser typischen Vorstadtmütter - kurzes, glänzendes Haar, schönes Zahnpastalächeln, funkelnde Augen -, doch sie war äußerst interessiert an Sex, und zwar (im Gegensatz zu mir) in vielerlei Richtungen.
»Er ist ein guter Kerl«, erwiderte ich. »Hast du ihn schon als Werwolf gesehen?«
»Nein. Aber ich freue mich schon darauf.«
Amelia war eine außergewöhnlich klare Senderin, doch der Gedanke, den ich da eben auffing, erschreckte mich. »Es ist bald so weit? Sie treten an die Öffentlichkeit?«
»Würdest du das bitte sein lassen!« Amelia ließ es sonst stets kalt, dass ich Gedanken lesen konnte, heute jedoch nicht. »Ich will nicht die Geheimnisse anderer Leute verraten, okay?«
»Tut mir leid«, sagte ich, und das meinte ich auch so. Aber ich war trotzdem leicht eingeschnappt. Wenigstens in meinem eigenen Haus sollte ich mich doch etwas entspannen und die Schutzbarrieren herunterfahren dürfen, mit denen ich meine Fähigkeit sonst abblockte. Schließlich war es schon anstrengend genug, sie jeden Tag bei der Arbeit aufrechtzuerhalten.
Amelia erwiderte sogleich: »Mir tut's auch leid. Hör mal, ich muss mich jetzt fertig machen. Bis später.« Leichtfüßig lief sie die Treppe in den ersten Stock hinauf, der kaum genutzt worden war, bis sie mich vor einigen Monaten aus New Orleans hierher begleitete. So war sie dem Hurrikan Katrina entgangen, ganz im Gegensatz zur armen Octavia.
»Tschüs, Octavia. Viel Spaß heute Abend!«, rief ich und ging durch die Hintertür zu meinem Auto.
Während ich die lange Auffahrt entlangfuhr, die durch den Wald zur Hummingbird Road führte, fragte ich mich, wie die Chancen wohl standen, dass Amelia und Tray zusammenblieben. Tray, ein Werwolf, betrieb eine kleine Reparaturwerkstatt für Motorräder und arbeitete gelegentlich als Bodyguard. Und Amelia war eine vielversprechende junge Hexe, deren Vater unermesslich reich war, sogar noch nach Katrina. Der Hurrikan hatte die meisten Materiallager seines Bauunternehmens verschont und ihn auf Jahrzehnte hinaus mit ausreichend Aufträgen versorgt.
Laut Amelias Gedanken war's heute Abend so weit - nein, Tray wollte ihr keinen Heiratsantrag machen, heute Abend würde Tray sein Coming-out haben. Trays Zweigestaltigkeit war ein großes Plus in den Augen meiner Mitbewohnerin, die ein Faible fürs Exotische hatte.
Ich betrat das Merlotte's durch den Hintereingang für Angestellte und ging direkt in Sams Büro. »Hey, Boss«, sagte ich, als ich ihn hinter dem Schreibtisch sitzen sah. Sam war Buchhaltung eigentlich verhasst, doch das war genau das, woran er gerade saß. Aber vielleicht war ihm die Arbeit auch eine willkommene Ablenkung, denn Sam wirkte irgendwie beunruhigt. Sein Haar war noch verwuschelter als üblich, und seine goldblonden Locken umstanden sein angespanntes Gesicht wie ein Heiligenschein.
»Mach dich auf was gefasst. Heute Abend ist es so weit«, sagte er.
Ich war sehr stolz, dass er es mir doch noch selbst sagte; und weil er beinahe wie ein Echo meine eigenen Gedanken ausgesprochen hatte, musste ich unwillkürlich lächeln. »Ich bin auf alles gefasst. Du kannst auf mich zählen.« Meine Handtasche verstaute ich wie üblich in der tiefen Schublade der Kommode. Dann ging ich mir eine Schürze umbinden. Ich sollte Holly ablösen, doch nachdem ich mit ihr über die Gäste
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