Vampyrus
lag vor mir das legendäre Grimoire, das vor vielen Jahren aus der Feste des Grafen Dracul gestohlen worden war und das seitdem sowohl von Menschen als auch Vampiren gesucht wurde. Wie Kardulgor in seinen Besitz gelangt war, wollte er mir nicht verraten, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es dabei mit rechten Dingen zugegangen sein konnte. Ich zögerte, es zu berühren, doch der Magier forderte mich mit einer Geste dazu auf. Vorsichtig blätterte ich in den brüchigen Seiten, während es in dem Raum vollkommen still war und das Kaminfeuer seltsame Schatten an die Wände warf. Die verblichenen Seiten bestanden aus dickem Pergament, das schon brüchig war, sodass man beim Umblättern äußerste Vorsicht walten lassen musste. Kardulgor hatte sich in eine Zimmerecke zurückgezogen und beobachtete mich aufmerksam, wie ich seinen Schatz begutachtete. Es war Teil unserer Abmachung, dass ich die Quelle studieren durfte, um Hinweise nach der Herkunft meiner Art zu erhalten. Als Gegenleistung sollte ich einige Textstellen für Kardulgor interpretieren, die in einer uralten Sprache abgefasst waren, die für Menschen nicht zugänglich war.
Die Schrift des Grimoire war verschnörkelt und kaum leserlich. Da waren Deutsch, Latein, Griechisch sowie Sprachen, deren Herkunft man erst herausfinden musste. Und die Ränder waren mit unzähligen Kommentaren bekritzelt, aus denen hervorging, wie viele Besitzer das Werk schon gekannt hatte. Schon nach wenigen Minuten war mir klar, dass ich für das Erlangen der gesuchten Erkenntnisse länger brauchen würde als einen kurzen Besuch. Ich blickte auf und sah Kardulgor in die Augen. Ich glaubte, eine gewisse Befriedigung darin zu sehen.
Ich bedeutete meinem Gastgeber, dass ich müde sei und mich gerne zurückziehen wollte. Kardulgor sicherte mir zu, ich könne einige Tage sein Gast sein und das Buch in Ruhe studieren. Ironisch meinte er, dass in seinem Haus genügend Platz sei. Und natürlich stünde mir auch seine restliche Bibliothek zur Verfügung. Wenn ich nichts dagegen hätte, könnten wir die Zeit am besten nutzen, indem er tagsüber arbeite und mir die Nachtstunden vorbehalten blieben, was meinem Naturell ja ohnehin entspräche. Somit nahm ich seine Einladung an.
Der Hausherr machte eine Geste mit der Hand und die Tür der Bibliothek schwang auf. Sogleich setzte sich der Kerzenleuchter in Bewegung, um mir den Weg zu weisen. Ich konnte die nun wieder auftauchende Schattengestalt nicht von ihrem Vorgänger unterscheiden und fragte mich, ob der Meister nur diesen einen hilfreichen Geist oder deren mehrere in Diensten hielt. Gewiss war ich mir dagegen, dass der Schatten einst einer lebenden Person gehört haben musste, die fortan schattenlos durch die Welt ging. Ein seltsames, wenngleich auch erträgliches Schicksal. Ob der Schatten auch Gefühle hatte, vielleicht des Verlusts oder der Einsamkeit, darüber konnte ich nur Vermutungen anstellen.
Das Licht schwebte vor mir durch die Gänge voran. Unser Weg führte in einen anderen Flügel des Gebäudes, der noch verlassener und düsterer schien als der, in den Kardulgor mich zuerst geführt hatte. Ich vermutete, dass der Magier mich nicht in der Nähe seiner Schätze bleiben lassen wollte und deshalb meine Unterkunft so weit weg, wie möglich eingerichtet hatte. Schließlich blieb der Geist vor einer unscheinbaren Türe stehen, die sich in ein altmodisches Schlafzimmer öffnete. Ich hatte schon befürchtet, meine Unterkunft würde verwahrlost sein, doch der Raum, den ich erblickte, war durchaus wohnlich. Ein großes Himmelbett mit gedrechselten Säulen erwartete mich und sogar für ein behagliches Kaminfeuer war Sorge getragen worden. Solange ich dem Hausherrn von Nutzen war, würde er wohl meinen Aufenthalt so annehmlich wie möglich machen. Aber mir war klar, dass ich im anderen Fall nichts Gutes von ihm erwarten konnte.
Ich trat an das Fenster, um in die Nacht hinauszusehen. Ich befand mich Obergeschoss des Hauses. Unter mir fiel fast senkrecht die Steilklippe ab. Das Meer war als solches kaum zu erkennen. Da war nur eine endlose schwarze Fläche, aber am Horizont war bereits ein kleiner Streifen Licht zu sehen, der den Morgen ankündigte. Das Donnern der Brandung war noch zu hören, hatte aber deutlich abgenommen. Der Wind verursachte ein leises Flüstern am Fensterrahmen. Das Zufallen der Türe ließ mich herumfahren. Ich war wohl nun alleine im Zimmer, denn der Schatten war nirgends mehr zu entdecken. Konnte ich mir dessen
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