Vampyrus
verließ er mich. Die folgenden Stunden brütete ich über der Textstelle, die ich entschlüsseln sollte.
Ich weiß nicht mehr, wie lange es gedauert hatte, als ich einen kühlen Luftzug wahrnahm, der sanft über meine Hände strich. Die Bibliothek hatte keine Fenster und auch die Türe war fest verschlossen, sodass mein erster Gedanke war, er müsse von dem Kamin kommen, in dem immer noch ein paar Holzscheite vor sich hin glühten. Doch dann bemerkte ich den Schatten an der Wand zu meiner Rechten – der Schatten, der wie eine menschliche Gestalt aussah. Ich nahm die Hände von dem Lesepult und richtete mich auf, wobei mir schmerzlich bewusst wurde, wie lange und krumm ich hier gestanden hatte. Der Luftzug wurde stärker und der Kerzenleuchter begann bereits gefährlich zu flackern, als sich die Seiten des Grimoire durch ihn zu bewegen begannen. Angestrengt erhob sich die erste Seite, fiel wieder zurück, wurde wieder aufgeweht, blätterte um. Fasziniert sah ich zu, wie eine zweite Seite umgeblättert wurde. Und dann flogen die Seiten geradezu. Bis der Wind auf einen Schlag aufhörte.
Neugierig näherte ich mich wieder dem Buch, um zu sehen, was der Geist mir aufgeschlagen hatte. Ich dachte zuerst, er wolle mir bei meinen Fragen helfen, doch schien es so, als ob er seine eigenen Absichten verfolgte. In der Textstelle, die vor mir lag, ging es um Schatten. Ich blickte zu der Wand hinüber. Der Schemen war immer noch da, als ob er verharrte und abwartete, was ich nun tun würde. Ich zweifelte keine Sekunde, dass er mir etwas zeigen wollte. Ich überflog den Text. Er beschrieb offenbar einen mächtigen Spruch, mit dessen Hilfe man den Schatten eines Menschen von diesem ablösen und zu seinem eigenen Diener machen konnte. Der Verzauberte würde fortan ohne Schatten durch sein Leben gehen. Ich hatte also recht gehabt mit meiner Vermutung. Aber da stand auch eine Formel zur Auflösung des Banns.
Meine Bilder habt ihr den Toten übergeben, kehrt um!
Meine Bilder habt ihr bei den Toten gesehen, kehrt um!
Meine Bilder habt ihr mit Mauern eingeschlossen, kehrt um!
Meine Bilder habt ihr auf der Türschwelle niedergestreckt, kehrt um!
Ich blickte wieder zu dem Schatten an der Wand. Er bewegte sich nicht. Was sollte ich tun? Ich konnte nicht riskieren, meinen Gastgeber, der ein sehr mächtiger Zauberer war, zu verärgern. Ich begriff aber auch, worum es Kardulgor ging. Sein Ziel war, Macht über andere Wesen zu gewinnen, sie zu beherrschen und sich zu Diensten zu machen. Noch diente ich ihm freiwillig, aber ich war gewarnt und würde auf der Hut sein. Wie ich mich irrte, mich sicher zu fühlen!
Der Schatten war deutlich zu sehen. Eine Zeit lang verharrte er noch an der Stelle, als wartete er auf meine Antwort. Dann bewegte er sich blitzschnell nach oben, glitt über die Zimmerdecke und verschwand durch die Oberkante des Türrahmens. Ich starrte noch eine Weile auf die Stelle, doch nichts passierte. Dann wendete ich mich wieder meinen eigenen Studien zu. Ein oder zwei Stunden später hatte ich die Antwort, die ich suchte, gefunden.
Es war kurz vor Morgengrauen. Die Behauptungen, die in dem Grimoire aufgestellt waren, waren beunruhigend. Sollte es wirklich möglich sein, ein Stück Haut eines Vampirs zu Pergament zu verarbeiten, um darin die Seelen von Menschen zu fangen? Und war es dazu wirklich nur notwendig, ihren Namen mit ihrem eigenen Blut darauf zu schreiben? Wenn dies so wäre, dann stellte das eine der mächtigsten magischen Waffen dar, die bisher erdacht worden waren. Kein Wunder, dass Kardulgor dahinter her war. Aber ich war müde und es würde bald hell werden. In die fensterlose Bibliothek gelangte zwar kein Tageslicht, aber ich hatte eine Abneigung gegenüber Tagesstunden. Sonnenlicht empfand ich selbst hinter den dicksten Mauern noch als unangenehmen Druck, der mich körperlich und geistig schwächte. Ich beschloss, auf mein Zimmer zu gehen und zu ruhen. Kaum hatte ich den Entschluss gefasst, erschien auch schon der Schatten mit dem Kerzenleuchter im Zimmer. Ich schlug das Grimoire zu und wollte nur noch schlafen.
Ich erwachte. Der Schlaf war kürzer als sonst gewesen und seltsam, als wären da Erinnerungen, an die ich nicht herankam. Als Erstes verspürte ich die Härte der Unterlage, auf der ich lag. Und die Kälte. Und dann den Geruch von alten Mauern und Moder. Ich nahm wahr, dass meine Arme und Beine in einer unnatürlichen Stellung ausgestreckt waren. Ich schlug die Augen auf. Gelbliches Kerzenlicht
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