Vanhelsing 01 - Schreckensgalerie
geradezu gespenstische Plastizität. Die Zunge zuckte daraus hervor. Die kalten Facettenaugen blitzten auf.
Die beiden Galeristen wichen erschrocken einen Schritt zurück.
"Das ist es, was ich meine!" flüsterte Evelyn tonlos.
"Sie haben so etwas schon einmal erlebt und mir nichts davon gesagt?" murmelte McInnerty.
"Vielleicht glauben Sie mir jetzt. Ich habe keine Ahnung, was mit diesen Bildern ist, aber für mich steht fest, daß hier einiges nicht mit rechten Dingen zugeht!"
Ein Zischlaut ertönte.
Der lippenlose Mund des Schlangenwesens entblößte zwei spitze Zahnpaare.
Dann schnellte die Kreatur aus dem Bild heraus und erwachte zu einem unheimlichen Leben. Lautlos und mit der Behendigkeit eines wilden Tiers kam das Wesen auf die Beiden zu. Der Weg zur Tür war den beiden Galeristen abgeschnitten.
Wie gebannt standen sie da.
McInnerty gewann als erster die Fassung wieder. Er nahm den niedrigen Glastisch in beide Hände. Der Katalog, den er gerade noch darauf abgelegt hatte, fiel geräuschvoll zu Boden. Die Kreatur ließ erneut zischend die Zunge hervorschnellen. Sie streckte Hände aus. Von der Form her wirkten sie wie die Hände eines Menschen, nur waren sie von Schuppen bedeckt und wiesen messerscharfe, überlange Nägel auf, die eher an Krallen erinnerten.
McInnerty schleuderte der Kreatur den Tisch entgegen. Das Schlangenwesen wich aus und schnellte dann blitzschnell nach vorn. Mit einem gewaltigen Sprung war es bei McInnerty und packte ihn mit den Krallenhänden an den Schultern. Die beiden stürzten zu Boden.
Evelyn Sounders schrie. Sie war halb wahnsinnig vor Angst. Sie taumelte zurück, griff zur Seite und riß dabei eines der Brennan-Gemälde von der Wand.
Das Schlangenwesen beugte sich inzwischen über den am Boden liegenden McInnerty. Gegen die ungeheure Kraft dieser gespenstischen Kreatur hatte der Galerist nicht den Hauch einer Chance. Er schrie. Seine Augen waren vor Entsetzen geweitet, während sich die schuppigen Hände des Ungeheuers um seinen Hals legten.
McInnertys Schrei verstummte.
Seine Augen erstarrten.
"Nein!" rief Evelyn. "Mr. McInnerty!"
Der Galerist war tot. Das Schlangenwesen erhob sich. Es wandte den reptilienhaften Kopf. Die kalten Facettenaugen musterten Evelyn Sounders einen Augenblick lang. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Sie war kaum fähig zu atmen.
Und dann sah sie, wie eines der Gemälde im Hintergrund durch das Schlangenwesen hindurchzuschimmern begann.
Die Kreatur wurde transparent.
Atemlos sah Evelyn dem Phänomen zu. Die Gestalt des Schlangenwesens verblaßte zusehends und löste sich innerhalb weniger Augenblicke völlig auf. So als hätte es niemals existiert.
Evelyn machte zögernd einen Schritt nach vorn. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Sie öffnete halb den Mund, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Ein dicker Kloß steckte ihr im Hals. Sie blickte auf McInnerty hinunter, dessen tote Augen sie entsetzt anzustarren schienen.
*
"Ich bin mir sicher, daß Brennan parapsychisch begabt ist", sagte ich zu Tom, während wir unsere knappe Mittagspause in einer Sushi Bar in der Nähe des Trafalgar Square verbrachten.
Der Trafalgar Square mit seinem Nelson-Denkmal und den gewaltigen Steinlöwen hatten für mich eine besondere Bedeutung. Das hing mit Tom zusammen. Kurz nachdem er in der Redaktion der NEWS als Reporter angefangen hatte, hatte ich ihn hier zufällig getroffen... Fasziniert hatte er mich vom ersten Augenblick, aber zunächst war er mir äußerst zwielichtig erschienen.
"Bist du dir sicher?" fragte Tom.
"Ich habe die übersinnlichen Energien eindeutig gespürt, daran gibt es keinen Zweifel. Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie stark diese Begabung ist..."
"Rovenna Brennan - wenn sie wirklich eine bekannte Pianistin war, dann müßte sich im Archiv der NEWS doch etwas über sie finden", war Tom überzeugt. Er zuckte die Achseln. "Im Augenblick müssen wir nach jedem Strohhalm greifen, Patti. Wir treten ziemlich auf der Stelle..."
Einen Moment lang schwiegen wir.
Dann sagte ich: "Allan Brennan ist dir nicht gerade sympathisch, oder?"
Tom sah mich überrascht an und hob die Augenbrauen. Dann lächelte er verhalten. "War das so offensichtlich?"
"Ich glaube nicht, daß er davon etwas bemerkt hat", tröstete ich ihn. "Sehr sensibel ist dieser Egozentriker ja nicht!"
"Vielleicht mochte ich einfach nicht die Art und Weise, in der er dich angesehen hat, Patti..."
"Eifersüchtig?"
Tom lächelte. Er berührte mich leicht am Arm.
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