Vanhelsing 01 - Schreckensgalerie
furchtbaren Klaue ausgewichen, die ihm um ein Haar die Halsschlagader zerfetzt hätte.
Dann war die Vision zu Ende.
Vor meinem inneren Auge wurde es dunkel.
Ich fühlte, wie mir der Puls bis zum Hals schlug.
Vielleicht wird genau das passieren , dachte ich. Brennan verliert die Kontrolle über die Mächte, mit denen er sich zweifellos eingelassen hat... Vorausgesetzt er hatte die Kontrolle überhaupt je gehabt!
Ein Unbehagen machte sich in mir breit und ein leichtes Zittern überlief mich. Du bist völlig überreizt , dachte ich und versuchte, mich selbst etwas zu beruhigen. Ich dachte daran, daß es vielleicht besser gewesen wäre, diese Nacht nicht hier, in der Vanhelsing Villa zu verbringen, sondern in Toms Wohnung in der Ladbroke Grove Road. Ihn in der Nähe zu wissen, an seiner Seite und in seinen Armen zu liegen...
Vielleicht hätte mich das etwas beruhigen können.
Ich sah auf die Uhr.
Wenn ich am nächsten Morgen halbwegs ausgeruht in die Redaktion kommen wollte, dann mußte ich nun zusehen, daß ich schleunigst ins Bett kam. Ich machte mich also fertig. Wir sollten uns wirklich eine gemeinsame Wohnung suchen... , ging es mir durch den Kopf.
Ich fiel in einen unruhigen Schlaf, wälzte mich immer wieder in den Kissen und erwachte plötzlich schweißgebadet und mit einem scheinbar unbegründeten Angstgefühl, das mir dann jedesmal schier den Atem zu rauben drohte.
Wenn ich dann wieder in die Kissen sank, plagten mich wirre Träume. Chaotische Collagen aus willkürlich zusammengestellten Bildern und Szenen. Ich sah Gesichter in rascher Folge vor mir. Die Gesichter der Brennan-Geschwister, Jim Fields Gesicht, so wie Brennan es auf die Leinwand gebannt hatte und die Gesichter jener furchtbaren Dämonen, die die Wände der Galerie Sounders & McInnerty zierten.
Und zwischendurch erschien immer wieder ein pechschwarzes Sechseck, in dem ein Buch schwebte.
Die goldfarbene Aufschrift kannte ich nur zu gut.
Es war das LIBRUM HEXAVIRATUM.
*
Als am nächsten Morgen der Wecker schrillte, fühlte ich mich wie gerädert. Ich zog mich an, frisierte mich und dachte die ganze Zeit über darüber nach, was das LIBRUM HEXAVIRATUM wohl mit den Brennan-Geschwistern zu tun hatte. Es mußte eine Verbindung geben. Meine Träume legten das nahe. Und wenn ich auch früher meiner Gabe oft mißtraut hatte, so wußte ich doch längst, daß ich besser daran tat, ihr zu vertrauen.
Tante Lizzy traf ich in der Küche.
Sie hatte bereits den Tee aufgesetzt und den Frühstückstisch gedeckt. Ganz gleich, ob sie die ganze Nacht über in ihren magischen Schriften gestöbert hatte - das ließ sie sich nicht nehmen. Sie brauchte beneidenswert wenig Schlaf, was, wie sie sagte, einer der wenigen Vorteile des Alters war.
"Setz dich, Kind! Der Tee muß gleich soweit sein..."
Auf meinem Platz an dem schmalen Küchentisch lag ein vergilbter Zeitungsartikel. An der Kennzeichnung mit einer fünfstelligen Nummer sah ich, daß er aus Tante Lizzys Archiv stammte, das neben seltenen okkulten Schriften auch zahllose Presseartikel über ungewöhnliche Phänomene und Parapsychologie enthielt. Sämtliche Meldungen, die ihr in die Hände fielen, archivierte sie mit einer bewundernswerten Akribie.
Sie streckte die Hand aus und deutete mit dem Zeigefinger auf den Artikel.
"Ich wußte doch, daß ich den Namen Brennan schon einmal gehört hatte", stellte sie dann fest.
VERFÜGT WUNDERKIND ÜBER PARA-KRÄFTE? stand dort in den rot
unterstrichenen Lettern eines Boulevard-Blatts. Ein kleines schwarz-weiß Foto war daneben plaziert worden. Es zeigte ein kleines Mädchen mit langen Haaren und einem sehr ernsten, traurigen Blick. Mit dem Blick einer Erwachsenen! durchfuhr es mich.
Ich überflog den Artikel.
"Rovenna Brennan wurde als eine Art medizinisches Wunder in der Öffentlichkeit präsentiert", erläuterte mir Tante Lizzy indessen. "Angeblich soll sie mit ihren geistigen Kräften ein Feuer in einem Nachbarraum entzündet haben..."
"Gibt es noch weitere Artikel dazu?"
"Nein. Wahrscheinlich wurde sie daraufhin völlig abgeschirmt. Erst als sie zehn Jahre später damit begann, öffentlich Konzerte aufzuführen, trat sie wieder in die Öffentlichkeit... Aber ich bin mir ziemlich sicher, daß es sich um dieselbe Rovenna Brennan handelt, denn erstens stimmt das Alter und zweitens kommt dieser Name nicht so häufig vor..."
"Sie ist es", erklärte ich. "Dieser melancholische Blick...
Sie hatte ihn schon damals... Es ist fast erschreckend, wie
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