Vanilla High (German Edition)
gehört. Gewiss eine relative Unsterblichkeit, denn Sterben ist weiterhin möglich, aufgrund von Unfällen, Verbrechen, Kriegen, Selbstmorden oder Naturkatastrophen. Statistiker berechnen die neue Lebenserwartung. Zweihundert, dreihundert Jahre, einige Statistiker gehen von tausend Jahren und mehr aus. Die Lebenserwartung der Tabok muss weit höher sein. Alle, die sie hier herum rennen müssen älter als tausend Jahre sein. So ein Alter wurde auch nicht von unseren Riesenschildkröten erreicht. Die Aussagen über die neue Lebenserwartung sind statistisch nicht zuverlässig, da funkt die Chaostheorie dazwischen. Niemand kann sagen, was in tausend Jahren ist, auch die Tabok nicht. Ich war versucht, die Vorfälle mit der Apokalypse von Johannes zu deuten, aber es gelang mir nicht. Wahrscheinlich sind wir noch nicht so weit, obgleich die Welt teilweise schon Veränderungen im apokalyptischen Ausmaße erlebt. Die Staatenwelt Afrikas ist nach der großen Krise in den Dreißiger zusammengebrochen. Die Juden haben ihr Israel aufgegeben und leben nun in einer Enklave im früheren Kanada. Trotzdem, das alte Staatsgebiet besteht weiter und die heiligen Stätten, Jerusalem, werden gepflegt in einem Umland ohne Rohstoffe, das zur Wüste verkommen ist. In Schwarzafrika gibt es keine Staaten mehr, nur noch Konzerne, die die Länder ausplündern, geschützt durch private Milizen. Es gibt nur noch wenige kleine Staaten. Japan zum Beispiel, dass nie Mitglied der ostasiatischen Allianz werden wollte. Indonesien blieb autonom, vereinigte sich mit Malaysia und steht im Spannungsfeld der islamischen Föderation und der Ostasiatischen Allianz. Russland ist ebenfalls eine Mittelmacht der Welt. Die Vereinigten Staaten von Amerika, zu denen nun auch das frühere Kanada gehört, die Europäische Union und die Ostasiatische Allianz sind die Supermächte dieser Welt. Indien, die Islamische Föderation und das Vereinigte Lateinamerika sind Großmächte, denen der Klimawandel doch arg zugesetzt hat. Die Europäische Union hat meine Sympathien, da sie einen größeren Teil der demokratischen Traditionen, die am Anfang des 21. Jahrhunderts noch vorgeherrscht haben, erhalten haben. Es herrscht dort Religionsfreiheit, was mir wichtig ist. Die Vereinigten Staaten sind ein evangelikaler Kirchenstaat, in dem selbst die Katholiken unterdrückt werden. Vancouver wird für mich eine schwierige Zeit: kein Rotwein, kein Ganja. Das nennt man Prohibition. Die Gesellschaft steckt permanent in der Gefahr eines Bürgerkriegs. Ich wundere mich, dass die Sklaverei nicht wieder eingeführt wurde. Katholische Latinos als Sklaven würden sich doch sehr eignen. Die eigentliche Macht liegt letztendlich bei den Konzernen. Sie sind weltweit verwoben, nutzen für sich die jeweils autoritären Regierungen aus, aber ihnen ist es letztlich zu verdanken, dass keine Weltkriege ausgebrochen sind, denn das Kapital ist international verwoben. La Reunion war auch Spielball der Konzerne, administrativ zu Frankreich gehörig, bis die Tabok kamen. Für die nun herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse gab es bislang keine Theorie. Das, was den Konzernen gehörte, wird nun genossenschaftlich bewirtschaftet und durch die Tabok geht es den Menschen der Insel gut, so sagt man doch. Geht es mir gut? Ich beantworte diese Frage mit einem kräftigen Schluck Rotwein. Der Wein will mir heute Abend nicht schmecken, aber ich vertraue auf seine mentale Wirkung. Zeit für den Keks, Zeit für einen Zustand, in dem sich die Frage, ob es mir gut geht, relativiert. Die sich im Kreis bewegenden Gedanken werden dann in einen größeren Kreis aufgenommen; das ewige harmonische Rad. Die Zeit macht sich dann nicht mehr so durch ihr Vergehen bemerkbar, mehr durch ein Ruhen, sie währt und nährt die Illusion vom Hier und Jetzt in seiner statischen Perfektion, bis ich mich schlaftrunken zu Bett legen werde und völlige dunkle Vergessenheit über mich kommt. Sicherlich werde ich träumen, habe ich geträumt, jede Nacht, so sagt die Forschung, aber ich bin mir meiner Träume nicht bewusst. In meiner Jugend gab es ein, zwei Träume, deren ich mir bewusst wurde. Nachdem ich dann regelmäßig Ganja nahm, war es vorbei mit den Träumen, allerdings geschieht etwas Traumähnliches, bevor ich einschlafe, kurz bevor die dunkle Vergessenheit kommt. Schade, ich kann mich an die wenigen Träume meiner Jugend nicht mehr erinnern. Ich nehme den bitteren Keks. Ich bin mir nicht sicher, ob er mir die Träume stiehlt,
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