Vanilla High (German Edition)
gegenseitig. Die Welt hat nur sehr beschränkten Zugang zu Reunion. Ich habe mich immer wieder gefragt, ob Verrückte dieser Welt einen atomaren Erstschlag, einen Erstschlag wie auch immer führen könnten. Die Insel ist klein, aber die Tabok sind nicht nur hier, sondern auch dort draußen, im Weltraum, und sie könnten die ganze Erde auflösen, vernichten. Die perversen Mächtigen der Erde wissen das. Niemand wagt den Erstschlag. Bis jetzt wenigstens nicht. Vielleicht denkt man, die Tabok sind so weise, dass sie auf Rache verzichten. Ich weiß nicht, inwieweit die Tabok für die Sicherheit dieser Insel garantieren können. Es ist mein Job, herauszufinden, ob sie es können, so wie es mein Job ist, herauszufinden, ob es Größenwahnsinnige gibt, die den Erstschlag suchen. Ich mag diesen Platz. Dort vorn steht auch Jasmin, daneben Muskat. Der Park von meinem Bruder umfasst etwa achtzigtausend Quadratmeter. Hier wachsen fast alle Gewürzpflanzen, die in den Tropen und Subtropen gedeihen. Arun hat da ein Faible für Vollständigkeit. Auf etwa hundert Quadratmeter wächst Ganja. Eine kleine Hütte ist für die Züchtung von Stropharia cubensis gedacht, letztendlich ein Stoff, von dem ich nicht soviel nehmen sollte. Ich bleibe bei Rotwein und den Ganja-Keksen und die zwei, drei Zigarillos, die ich am Abend rauche. Die Tabok lieben seine Vanille. Er baut hier ein paar Spezialzüchtungen an, aber ebenso Hunderte von verschiedenen, klassischen Gewürzpflanzen, und ich stelle mir vor, dass es entsprechend viele Spezies im Universum gibt, die von der einen oder anderen Sorte Gewürz high werden. Die Tabok werden high von Bourbon-Vanille; reines Vanillin reicht nicht. Ich bin umgeben von einem Garten der geheimnisvollen Stoffe. Muskat wirkt auch bei manchen Menschen. Man kann den Park auch des Nachts begehen, aber ich bin inzwischen zu träge. Meine Trägheit kennt nur noch einen halben Liter Wein, den sie trinken will. Die Pflanzen haben ihr Eigenleben, aber sie sind ruhig. Manchmal verirrt sich ein Falter, untersucht die Lampen. Der Halbmond scheint sie nicht zu beeindrucken. Ich liebe dieses kleine Paradies im Süden unserer Insel. Meine Eltern haben mit ihrem Vermögen meinem jüngeren Bruder einen Traum wahr gemacht, mich aber haben sie quasi enterbt. Aber ich hadere nicht mit meinem Schicksal; ich habe meine Überzeugungen. Ich blicke in diesen Park, bin mir bewusst, dass ich in einer geheimnisvollen Welt lebe. Langsam werde ich schläfrig.
Ich fahre den 112E sehr gerne. Ein reines Elektroauto. Der Peugeot hat eine Reichweite von 350km. Besonders schnell ist er nicht, aber der Wagen ist alles in allem optimal für die kleine Insel und meinen Singlestatus. Ich hasse meinen Singlestatus, liebe Kinder, aber ich kann keine Kinder zeugen. Ich würde welche adoptieren. Nachdem ich Saint Louis hinter mir gelassen habe, nähere ich mich wieder der Küste. Hier in der Nähe liegt die Stadt der Mönche, die auf Betreiben der Tabok errichtet wurde. Acht Klöster, acht verschiedene Weltreligionen auf engstem Raum. Jüdische Rabbis, islamische Gelehrte, Brahmanen, Jesuiten, buddhistische und taoistische Mönche und sogar Shintoisten leben hier ihre Religion, sind im engen Kontakt miteinander und im Kontakt mit den Tabok. Die Tabok haben ein Faible für östliche Religionen. Hier sind die größeren Orte nach christlichen Heiligen benannt, denen ich mich näher fühle. Keine andere Religion als das Christentum hat mehr für den Humanismus auf der Erde getan, keine hat dieses herauskristallisierte Bild der Nächstenliebe. Das Meer mit seinen Farben sieht einladend aus und am liebsten würde ich einen Zwischenstopp machen, um in dem ruhigen Wasser zu schwimmen, aber ich habe einen Termin in der Redaktion des Mementos. Wir wollen meine Amerikareise besprechen. Wenn ich an Nordamerika denke, bin ich nicht glücklich. Sie nennen sich Christen; es sind aber geldgeile Puritaner, die die Macht an sich gerissen haben. Intolerant gegenüber allem anderen. Auch die Katholiken werden dort unterdrückt. Reunion war traditionsgemäß ein Ort der Toleranz, weil hier schon seit der Besiedlung vier Weltreligionen auf engstem Raum zusammengelebt haben. Für meinen Vater ist Toleranz aber ein Fremdwort. Er gehörte zu den Malbars , die sich um die Jahrtausendwende verstärkt auf ihre hinduistischen Wurzeln konzentrierten. Er hat mir nie verziehen, dass ich Katholik wurde. Ich glaube, er ist ganz froh, dass ich ihm keine Enkel zeugen konnte.
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