Variationen zu Emily
Zwang antun, um nicht einfach wegzulaufen, wenn ich mit Menschen zusammenkam. Aber ich wollte mich nicht aufgeben und tat schwitzend mein Möglichstes, um wenigstens am Rande teilzuhaben an all dem Leben um mich herum.
Da war diese Feier bei Heiko. Den kennst du ja auch, war einen Jahrgang unter uns. Wurde dreißig oder so. Ach, du warst auch da? Habe dich gar nicht wahrgenommen. Was? Stimmt, ich war ziemlich beschäftigt. Mit Serena. Heiko hatte ja an der Uni mit der psychologischen Fakultät zu tun. Bei dieser Feier wollte er wohl seinen alten Freundeskreis mit seinen neuen Bekanntschaften zusammenbringen. Ich hatte schon von ihr gehört, allerdings das übliche Geschwätz: Sie war mit diesem zusammen, dann lief es nicht, also war er ausgezogen. Dann ging sie mit jenem, der einen Laden für Trachtenmode in der Schäfergasse hatte. Oder so ähnlich. Nichtssagender Tratsch eben. Gesehen hatte ich sie auch schon mal, Jahre zuvor, mit einem Ex-Freund, und ich dachte damals: zu füllig, zu langweilig und zu dicke Waden.
Aber dann kam dieses Fest. Ich war gekommen, um mich wenigstens für einen Abend aus meiner verdammten Depression zu lösen. Ich wollte mich umschauen, plaudern, flirten, einen Abend normal sein. Da saß ich also zufällig neben der damaligen Freundin von Heiko, deren Name mir entfallen ist, und versuchte, mein geringes Interesse an ihr mit einer großen Portion meines noch rudimentär vorhandenen Charmes zu überspielen. Auf meiner anderen Seite langweilte sich Andreas, der in dem Trubel noch keinen geeigneten Gesprächspartner gefunden hatte. Mann, zehn Jahre ist das schon her! Du weißt doch, das war dieser Schüchterne mit dem kleinen Schnurrbart. Der mit seiner Drei-Zylinder-Kawa mal in ein Auto reingerauscht ist. Zupfte immer an seiner Nase herum oder konsultierte seine Armbanduhr.
Egal. Inmitten des lebendigen Gebrauses um uns herum materialisierte sich auf einmal Serena: sehr schlank, ein leicht entrücktes, friedfertiges Lächeln auf dem Gesicht und offensichtlich auf der Suche nach Nachbarschaft. Passenderweise erhob sich Andreas und machte damit den Fehler seines Lebens, denn Serena setzte sich natürlich auf den freiwerdenden S essel. Da ich bemerkt hatte, dass Heiko wegen meiner angeregten Plauderei mit seiner Freundin eifersüchtig zu werden begann, widmete ich der neu angekommenen Person meine Aufmerksamkeit. Gefiel mir plötzlich irgendwie ganz gut, diese Frau, die mit ihrem Ankommen einfach ihr Ziel erreicht zu haben schien. Sie war ganz offensichtlich da, wo sie sein wollte. Ich entdeckte keine Eitelkeit, keinen Dünkel, keine Koketterie oder den Wunsch, sich in den Mittelpunkt zu stellen. Sie nahm sich einfach nicht wichtig.
Das war mir sehr sympathisch, da mir in meinem Zustand zuviel falsches Geglitzer Schwindel und Übelkeit ver ursachte. Wir stellten fest, dass wir aus Heikos Erzählungen ein wenig voneinander wussten, wir also eigentlich über einen Dritten bereits miteinander bekannt waren. Ich schaffte es an diesem Abend, über mich hinauszuwachsen. Ich war offen, ein wenig klug, charmant, interessiert, witzig. Glaube ich jedenfalls. Plötzlich tippte sie mir sanft mit dem Zeigefinger auf den Handrücken. Du zitterst, sagte sie. Tatsächlich musste mein psychischer Motor alles geben, um die Bremswirkung meiner Traurigkeit und Müdigkeit zu überwinden. Die im Innern wild stampfenden Kolben und rasenden Wellen übertrugen ihre Vibrationen auf meine Nerven. Mehr war nicht. Nur dass ich überzeugt war, im Notfall einfach wegfliegen zu können. Klasse, oder?
Ich nehme noch eins, wie ist es mit dir? Hallo. Nochmal dasselbe, bitte! Die war aber damals noch nicht hier, oder? Süße Kellnerin. Wie heißt sie? Andrea? Entzückend! Schau mal, wie sie die Gläser spült. Ganz selten, so eine Anmut. Wie das hübsche Köpfchen im Takt nickt. Ein berückendes Bild. Die Spülerin, von Spitzweg. Also. Wir unterhielten uns gut, später kamen noch ein paar andere Leute hinzu, und ich ging erst gegen sechs Uhr morgens, obwohl ich schon um neun einen wichtigen Termin in der Redaktion hatte. Ich machte damals ein Volontariat.
Oh, danke! Das ging wirklich schnell. Die morgendliche Sitzung ging dann auch erwartungsgemäß sehr daneben. Ich war einfach zu erledigt. Serena und ich hatten beim Abschied verabredet, miteinander zu telefonieren. Aber mein Zustand ließ das nicht zu. Ich war wie eine sehr einfache Maschine, deren Programm nur zwei Zustände vorsah: im Beruf funktionieren und
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