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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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anschließend dem Horror der eigenen Depression frönen. Auf die Dauer wird das höchst unangenehm. Man beginnt, sich wie eine multiple Persönlichkeit zu fühlen, deren einzelne Charaktere man entweder nicht kennt oder aber aus tiefstem Herzen verabscheut. Ich entschloss mich, einen Rettungsversuch zu unternehmen, indem ich ein paar Tage Urlaub im Ausland verbrachte. Vielleicht, so dachte ich, könnte ja die Fremde mit ihren Anforderungen und Abwechslungen eine heilende Wirkung auf mein zerrüttetes Ego ausüben.
    Ich flog nach Spanien . Es war Mai und so heiß, dass die Sonne einem Löcher in die Kniescheiben brannte, wenn man im Liegestuhl die Beine aufstellte. Ich hatte mich für eine Rundumversorgung entschieden, Luxus pur. Ich wollte mich so wenig wie möglich um mich selbst kümmern müssen. Eine Alternative zum Irrenhaus. Aber was für eine! Abends beim Essen wurde eine Krawatte erwartet. Die hatte ich allerdings nicht mit. Jackett, weißes Hemd und Bügelfaltenhose schon. Der Oberkellner, der mich erst abweisen wollte, lieh mir dann seinen Halsschmuck. Anschließend in der Bar traf ich auf schönoperierte Damen um die sechzig und ihre virilen Männer, die den ganzen Tag über Golf gespielt hatten. Ich dagegen war müßig gewesen, alles andere als viril. Nichts als in der glühenden Sonne am Pool zu sitzen, mir den Schmutz aus der Seele zu schreiben und träge mit einer elfenhaften jungen Frau zu flirten, die ihre Eltern auf dieser Reise begleitete. Warum, wusste ich nicht. Vielleicht als Belohnung für ein gelungenes Abitur, als letzten gemeinsamen Urlaub vor Hochzeit oder Schwangerschaft.
    Sie war wirklich bezaubernd auf die Entfernung. Ein Madonnengesicht. In sich ruhend, gelassen und von einer sehr wirksamen Schönheit, die mich in tiefste, herzzerreißende Sehnsucht stürzte. Wir gingen einmal zusammen in den Pool, der meistens verwaist war, da die ansonsten anwesenden Damen ihre glühenden Fettpolster mit Zeitschriften wie „Perfect Housewife“ und „Beauty and Surgery“ bedeckten. Wir tauschten Namen, Adressen und Interessen aus, und sie besuchte mich eines Abends in der Bar, wo ich immer saß, um bei klassischer Klaviermusik und Dutzenden von Bieren zu versuchen, meiner Depression schreibend einen Ausweg zu wei sen. Dabei stellte ich fest, dass sie zwar sehr hübsch und wundervoll gewachsen war, dass aber die einzelnen Elemente ihrer Schönheit durch Abstand gewannen. Ich war wohl kein guter Unterhalter. „Du rauchst und trinkst zu viel“, sagte sie zum Abschied, worauf sie in den Nebeln meiner Wahrnehmung für immer versank.
    Aber das ist eine andere Geschichte. In dieser Bar verirrte ich mich zunehmend in dem Labyrinth, das sich außerhalb de r beleuchteten Bezirke des Bewusstseins erstreckt. Im Alltag nehmen wir ja nur das wahr, was im Scheinwerferlicht liegt. Aber drumherum gähnt die Ergänzung des kleinen, von uns gewahrten Ausschnitts, die glücklicherweise gewöhnlich im Dunkeln liegt und trotz anderslautender Meinung von Seelenmechanikern mit absoluter Sicherheit nicht von uns selbst entworfen wurde. Nur im Traum erhaschen wir manchmal mit Entsetzen einen kurzen Blick darauf.
    Diese Umgebung unseres seelischen Wohnorts ist wahnhaft, wild, mit ausgefallenen Requisiten und absurden Figuren ausgestattet, ein Alptraum von makabren Gestalten, schauderhaften Handlungen, ekelerregenden Requisiten. Und alles, all dieses Jenseitige, Abseitige, wartet offensichtlich auf den Regisseur, der nur der Teufel selbst sein kann. Man sollte derartige Reisen in den Mittelpunkt seines Kopfes vermeiden. Normalerweise schützt uns ja auch der gesunde Menschenverstand davor, der das Licht dem Finstern vorzieht. In meinem damaligen Zustand war ich allerdings fasziniert von diesem Horrorkabinett und versuchte, meine Entdeckungen schreibend zu begleiten.
    Es entstanden wüste Texte. Wüst und von fremder Art, aber von eigenartiger, schillernder Schönheit. Ich kann sie heute nicht mehr lesen. Geht mir zu sehr an die Nerven. Fleurs du mal. Hübsche Kollateralschäden einer Beziehungskrise, was? Aber um auf die Geschichte zurückzukommen: Ich kam alles andere als geheilt zurück. Ich hatte auf der Suche nach Erkenntnis und Linderung meines Leids vielfach gesicherte Grenzen überschritten und dabei eine furchterregende Parallelwelt entdeckt, die in meinem eigenen Innern präsent war. Es war wie ein schlafender Drache, der nebenan in der Höhle atmet und dessen Erwachen man naturgemäß fürchtet. Aber dieser Drache

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