Vater. Mörder. Kind: Roman (German Edition)
unterrichten?«
»Ein einziges. Ich bin Stützlehrerin.«
Jemand, der nie als Vertreter gearbeitet hat, könnte nun zwei Bemerkungen von sich geben, die beide falsch wären. So könnte er entweder »Oh, wie schön« sagen und vielleicht sogar noch so tun, als wüsste er, worum es geht. Ziemlich riskant, zumal jedem klar wäre, dass man das Thema damit nur abwürgen will. Oder er könnte nachfragen, was genau man denn da mache, was ungefähr so klingen würde wie: »Von deinem Beruf hab ich ja noch nie was gehört.« Und das wäre dann zwar ehrlich, aber auch beleidigend.
»Ich habe mich schon immer gefragt, wie der Arbeitsalltag eines Stützlehrers aussieht«, lautet die angemessene Reaktion. Interesse zeigen und sich zurücknehmen. Damit der Kunde sich wohlfühlt, will heißen: seinen Widerstand aufgibt.
Sie erklärt mir, dass jeder Stützlehrer zwei oder drei Schülern mit besonderem Förderbedarf zur Seite steht, in allen Fächern. Auf diese Weise sollen sie besser in die Klasse integriert werden.
Eine fremde Frau, die irgendwie versucht, der nahen runden Vierzig zu trotzen.
»Das Problem ist, dass hier im Grunde alle Unterstützung bräuchten. Und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Wenn sie von der Mittelschule zu uns kommen, haben die meisten schon einen Knacks weg.«
Ich merke an, dass das harte Arbeit sein muss und die Blätterteigtasche vorzüglich schmeckt. Doppelte Anerkennung. Meine Hälfte des Teilchens habe ich mit zwei Bissen aufgegessen, ich wende mich wieder dem kleinen Sportplatz draußen zu. Die übliche Szenerie: Die Jungen spielen Fußball, die Mädchen Volleyball.
»Die Jungen werfen den Ball zu Boden und treten zu«, sage ich. »Die Mädchen fangen ihn mit den Händen und schleudern ihn in den Himmel.«
Meine Beobachtung scheint sie zu beeindrucken. Endlich ein Lächeln. Zwei zarte Falten rechts und links vom Mund, Erinnerungen an Schlachten, in die sie nicht freiwillig gezogen ist. Sie erwähnt, dass auch ihr privater Computer ziemlich langsam läuft, und fragt, ob ich wohl in den nächsten Tagen noch einmal vorbeikommen und einen Blick darauf werfen könne.
Jede günstige Gelegenheit birgt auch ein hohes Risiko. Mit dieser Binsenweisheit pflege ich widerspenstige Kunden zu überzeugen. Jetzt muss ich sie selbst beherzigen.
»Donnerstag?«, fragt sie.
»Donnerstag«, antworte ich.
»Ich bin übrigens Laura.«
»Laura«, wiederhole ich und suche irgendetwas, um mir die klebrigen Finger abzuwischen, bevor ich die Temperatur ihrer Hand erforsche. »Ich bin … Flavio.«
Auf dem Rückweg sehe ich in den Gärten der Reihenhäuser faule Hunde, reglose Schaukeln und wie Schlangen zusammengerollte Gartenschläuche. Inzwischen bin ich mir sicher, dass dies eine einmalige Gelegenheit ist. Ich rede mir sogar ein, dass die Begegnung mit der Lehrerin ein Wink des Schicksals ist. Andererseits weiß ich aber auch, wie gefährlich es ist, noch einmal in die Schule zurückzukehren, und nehme mir vor, besonders vorsichtig zu sein.
Ein Monster muss immer vorsichtig sein.
Ich sitze in meinem Spider, allein, bei geschlossenen Fenstern, und denke in Ruhe nach. Der archaische Geruch der Ledersitze hilft mir dabei. Und der Geruch des soliden Kunststoffs. Als mein Blick auf den Beifahrersitz fällt, kommt mir der Gedanke, dass jemand wie mein früherer Kollege Edoardo längst wüsste, wie er sich dieser Laura gegenüber zu verhalten hätte.
4
E doardo Magnani war der erste Außendienstmitarbeiter, den Aggradi Grafik & Druck eingestellt hat. Fast ein Jahr lang hat Edoardo Magnani dich durch halb Italien geschleift. Seinen Mund versteckt er unter einem Schnauzer, der so dicht ist wie eine Bürste und vom Zigarrenrauchen ganz gelb, und man weiß nie genau, ob er lächelt. Er redet gern, aber mit gesenkter Stimme. Mit seinem leichten Florentiner Akzent hat er dir erklärt, wie man einen Kostenvoranschlag erstellt, wie man diesen Hohlköpfen, die er immer noch »Schriftsetzer« nennt, Anweisungen erteilt und wie man bereits den Filmen ansieht, ob auf dem Ausdruck der gefürchtete Moiré -Effekt auftreten wird, diese ärgerlichen Körnchen, die bei jedem Fotosatz drohen.
Dein letzter Tag an seiner Seite war im Oktober, ein verregneter Nachmittag mit dicken Wolken und Lkw-Staus. Auf dem Rückweg von einem eurer Kunden in Bologna, für den ihr Mangas druckt, kam es auf der Straße über den Apennin zum totalen Stillstand. Der gewöhnliche Verkehrsunfall zwischen Barberino und Roncobilaccio.
Magnani
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