Die Meister der Am'churi (German Edition)
1.
„Nun fürchte dich doch nicht!“
Ni’yo versuchte bereits seit einigen Minuten, den kleinen Jungen zu beruhigen, aber vergeblich: Das Kind weinte nur noch lauter und duckte sich soweit wie möglich von der Hand weg, die ihn eigentlich retten wollte. Viel Platz blieb ihm dafür nicht: Der Junge, der vermutlich aus dem nah gelegenen Bauerndorf stammte, war in einen engen Schacht gefallen. Ni’yo wusste nicht, ob es vielleicht früher einmal ein Brunnen gewesen war, zumindest waren die Wände teilweise gemauert worden. Es kümmerte ihn auch nicht weiter, dafür war er zu sehr damit beschäftigt, mit dem Kopf nach unten hängend zu versuchen, dem Kleinen zu helfen. Ein Seil, das er um den nächstbesten Baumstamm geschlungen hatte, sicherte ihn dabei an den Füßen. Der Junge müsste nichts weiter tun als aufzustehen, dann könnte Ni’yo ihn greifen und nach oben ziehen; doch er weigerte sich strikt. Dass sie beide kaum etwas sehen konnten, weil Ni’yo den Schacht fast vollständig ausfüllte, machte die Sache nicht leichter. Langsam verlor er die Geduld. Das Seil scheuerte unangenehm über seine Fußknöchel, das Blut hämmerte in seinem Kopf von der ungewohnten Lage und das anhaltende Schluchzen zerrte an seinen Nerven.
„Dunkler, Dunkler!“, hatte der Junge gebrüllt, als er Ni’yo oben am Schacht erblickt hatte – zweifellos hielt er ihn für einen Schattenelf. Das geschah häufig, denn Ni’yo besaß nicht nur nachtschwarze Haare und Augen, sondern auch eher dunkle Haut im Vergleich zu den blassen und zumeist flachsblonden Flachländern in diesem Teil Arus. Er war tatsächlich ein Halbblut, seine Mutter war eine Schattenelfe gewesen. Dieses Volk lebte in unterirdischen Städten und war für seine Grausamkeit berüchtigt – nicht völlig zu Unrecht, wie Ni’yo am eigenen Leib hatte erfahren müssen.
„Ich bringe dich nach Hause, zu deinen Eltern“, versuchte er es ein letztes Mal, mit so viel Sanftmut, wie er noch aufbringen konnte. Es sollte eigentlich nicht mehr schmerzen, mit Angst und Ablehnung bedacht zu werden. Ni’yo war damit aufgewachsen und kannte es beinahe nicht anders. Beinahe – Jivvin hatte sein Dasein in dem letzten halben Jahr, seit sie den Tempel des Am’chur verlassen hatten, gründlich durcheinandergebracht. Ni’yo sehnte sich danach, ein Leben zu führen wie jeder andere Mensch auch. So, wie er es früher stets bloß hatte beobachten dürfen. Doch gleichgültig, wie viel sich mittlerweile geändert hatte, Ni’yo musste einsehen, dass er immer anders bleiben würde. Erschreckend und bedrohlich für die Menschen, die ihn nicht kannten.
Das Kind unter ihm wimmerte schwach.
„Du stehst jetzt auf und kommst her!“, grollte Ni’yo plötzlich. Er hatte genug von diesem Unsinn!
Wo Freundlichkeit versagt hatte, wirkte die Drohung sofort: Der Junge hörte auf zu weinen.
„Herkommen!“, befahl Ni’yo scharf. „Sonst komme ich runter, es reicht!“ Seine Augen, die auch in der Dunkelheit mehr sahen, als es Menschen möglich war, erhaschten panische Bewegungen unter sich. Schnell packte er zu, erwischte das Kind, das schrill zu brüllen und zu zappeln begann, um dann, als Ni’yo es mit beiden Armen umschloss, völlig zu erstarren. Kraftvoll zog er die Beine an und schaffte es so mitsamt dem angstbebenden Jungen aus dem Schacht heraus. Der Kleine war schmutzig und zerkratzt, schien den Sturz in etwa zwei Schritt Tiefe ansonsten aber gut überstanden zu haben. Zumindest konnte Ni’yo keine Verletzungen an ihm sehen, als er sich mit der einen Hand von dem Seil befreite, mit der anderen dafür sorgte, dass der Junge nicht weglief. Riesige blaue Augen starrten ihn an, erfüllt von Panik. Das Kind war vielleicht drei Jahre alt, schätzte Ni’yo, eher jünger – er wusste wenig von solch kleinen Geschöpfen. Für einen Moment erwog er ihn zu fragen, wie er hieß und ob er tatsächlich aus dem Dorf stammte, in dessen Nähe Ni’yo und Jivvin eine verlassene Holzhütte übernommen hatten. Aber das hätte wohl nur neues Geschrei und Tränenfluten hervorgebracht, also schlang er sich stumm das Seil über die Schulter und marschierte los, den Jungen fest an sich gedrückt. Die Bauern würden sich um das Kind kümmern, egal wohin es gehörte.
Es war Zufall gewesen, dass Ni’yo ihn überhaupt gefunden hatte. Er war eigentlich nur losgezogen, um Reisig zu sammeln, das er mit dem Seil zu handlichen Bündeln hatte schnüren wollen. Der Winter besaß einen langen Atem dieses
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