Vater sein dagegen sehr
schwatzte drauflos, mit einer hektischen Geschwätzigkeit, aber sie baute ihm eine goldene Brücke zu seinem inneren Gleichgewicht.
S E C H Z E H N T E S K A P I T E L
Hermann Luedecke blieb drei Tage lang bei seinen Kindern und bei Lutz im Turm, bevor er in das kleine Schwarzwaldbad ging, wo er auskuriert werden sollte. »Sie haben mir gesagt«, schrieb er an Lutz, »die Organe wären in Ordnung. Sie wären nur ein wenig zu stark abgenutzt. Und wenn ich die Absicht haben sollte, je wieder zu heiraten, dann sollte ich meine Augen möglichst nicht auf eine Siebzehnjährige werfen. Der Oberarzt ist verdammt witzig. Nun, ich werde eine alte brave Mamuschka als Haushälterin suchen, die uns betreut und die gut zu den Kindern ist. Ich hoffe, es wenigstens noch so lange zu machen, bis die Kinder auf eigenen Beinen stehen. Durch die Vermittlung der Kriegsgefangenenfürsorge, die sich für mich mit großem Nachdruck eingesetzt hat, habe ich eine Stellung als Konstruktionsingenieur in einer Rosenheimer Baufirma gefunden. Ich trete den Posten im Februar an. Sogar eine Wohnung ist vorhanden. — Meine schlimmste Befürchtung, mein Verstand könne durch die jahrelange Untätigkeit gelitten haben, ist Gott sei Dank grundlos. Zwar bewegte ich mich in ein paar Fachbüchern zunächst wie ein Mann, der nach Jahren wieder einmal seine alten, verrosteten Schlittschuhe vom Speicher holt und sie sich unter die Schuhe schraubt. Nach ein paar Stürzen und anfänglicher Unsicherheit schneide ich jetzt schon wieder die schönsten Bögen und spüre, wie die alte Sicherheit wiederkehrt.«
In den letzten Tagen des Januar holte Hermann Luedecke seine Kinder ab. Seine Firma hatte ihm für den Umzug einen kleinen Lieferwagen zur Verfügung gestellt, und die Aussicht, nicht nur so schäbig mit der Bahn, sondern neben dem Vater in dem kleinen, fast eleganten Wagen über die schneefreien Straßen rollen zu dürfen, machte den Kindern den Abschied leicht. Sie nahmen auch den Bello mit, obwohl sie ihr tröstliches Angebot noch ein paarmal wiederholt hatten. Aber es war ihnen anzusehen, daß es ihnen das Herz gebrochen hätte, wenn der Bello wirklich im Turm zurückgeblieben wäre.
»Du kannst dir ja einen Sohn vom Bello aussuchen, Onkel Lutz«, meinte der Rudi tröstend, denn der Bello war inzwischen Vater geworden, Vater von sechs winzigen, pudelschwarzen Wollknäueln, deren Mutter Pussi häufig zu Bello in den Turm auf Besuch gekommen war. Und Lutz versprach, sich dieses Angebot zum mindesten ernsthaft zu überlegen.
Der Winter war ungewöhnlich mild. Die Kinder hatten den Rodelschlitten, den Lutz ihnen zu Weihnachten geschenkt hatte, bei der Abreise in den Frachtraum des Wagens gepackt, ohne ihn auch nur ein einziges Mal benutzt zu haben. Und bereits im Februar spannte sich der Himmel so seidig über das Maintal, als müsse der Frühling jeden Tag einziehen. In den kleinen Gärten zwischen den Mauern des alten Stadtgrabens schoben die Forsythien ihre gelben Blüten vorwitzig aus den Zweigen, und die dicken Knospen der Magnolien wurden schon prall und färbten sich klebrig braun.
Lutz hatte seinen Roman im Januar beendet und einem Münchener Verlag übersandt. Jetzt wartete er von Tag zu Tag mit wachsender Unruhe auf eine Nachricht. Neue Einfälle drängten sich heran, aber er schob sie in die Dunkelheit zurück, aus der sie kamen. Die nervöse Spannung, in der er sich befand, verhinderte seine Konzentrationsfähigkeit. Er saß in diesen Wochen häufig in der Staatsbibliothek und beschäftigte sich vorzugsweise mit historischen Werken, biographischer Literatur und Memoiren, Fundgruben, die um so unerschöpflicher wurden, je tiefer man schürfte. Da war die faszinierende Gestalt Struensees, die ihn schon seit Jahren innerlich beschäftigte und wie ein magischer Strudel anzog. Es reizte ihn, die menschliche Tragödie dieses Liebhabers einer Königin und die politische Tragödie dieses unglückseligen illiberalen Liberalen in einem großen Entwurf aufzuzeichnen. Aber zwingender noch bedrängten ihn Stoffe aus der Gegenwart, die verwirrende Fülle von Schicksalen, die ihm aus jeder Zeitung, aus hundert eigenen Erlebnissen, von den Wandtafeln der Bahnhöfe, aus dem Suchdienst des Rundfunks und den endlosen Reihen von Kinderbildern entgegensprangen.
Hilde besuchte ihn täglich. Manchmal, wenn er es nicht erwarten konnte, ihr besonderes Klingelzeichen zu hören, holte er sie von daheim ab. Wenn das Wetter es zuließ, machten sie lange
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