Vater unser
wollte auch nicht erklären, was mit ihrem Bruder geschehen oder warum sie seit fünf Tagen von der Bildfläche verschwunden war. Sie wollte nicht in letzter Minute verzweifelt versuchen, ihren Job zu retten, und sie wollte niemandem, vor allem nicht Rick Bellido, die Genugtuung verschaffen, sie am Telefon weinen zu hören. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton.
« Miss Valenciano, hier ist Charley Rifkin. Ich hatte gehofft, mit Ihnen persönlich sprechen zu können. Colleen Kay von der Personalabteilung sitzt gerade in meinem Büro ... Ihr Verhalten vor Gericht letzte Woche war völlig unangemessen, ja grenzte bereits an Insubordination ... unprofessionell und unbotmäßig ... ich bin schockiert und enttäuscht... Mr. Bellido hat angemerkt ... Leider sehen wir uns genötigt, das Beschäftigungsverhältnis zu beenden ... erwarten, dass Sie Ihr Büro innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden räumen ...» Irgendwann schaltete Julia den Apparat einfach aus. Nachdem sie ihn wieder angestellt hatte, löschte sie die Nachricht. Sie hatte genug gehört. Sie war über den Anrufbeantworter gefeuert worden. Sie war froh, dass sie nicht abgenommen hatte, denn Rick hatte garantiert neben Rifkin gesessen. Wahrscheinlich hatte er seinem Kumpel erzählt, was für ein guter Fick sie gewesen war und dass er, Rifkin, doch leider von Anfang an recht gehabt hatte, was sie betraf. Julia hatte zwar mit dem Anruf gerechnet, doch er erschütterte sie trotzdem. Staatsanwältin war der einzige Beruf, den sie je hatte ausüben wollen. Und nun war alles vorbei. Ihr Karriere-Flugzeug war gerade abgestürzt, und sie hatte es selbst gesteuert. Dabei war sie nur wenige Monate zuvor noch so hoch geflogen ... Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ließ den Blick über das Durcheinander in ihrer Küche schweifen. Sie musste aus der erstickenden Enge dieses Apartments raus, sonst wurde sie noch verrückt. Sie hatte sich in ihren Bau zurückgezogen, um ihre Wunden zu lecken, aber nun hatte man sie aufgestöbert. Julia rannte ins Schlafzimmer und zog eine Laufhose und ein T-Shirt an, band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und verließ die Wohnung. Sie stellte ihren MP3-Player so laut, dass er die Stimmen von Charley Rifkin, Richter Farley, Rick, Karyn, Dr. Mynks und all den anderen übertönte. Sie lief Kilometer um Kilometer, immer schneller. Plötzlich sah sie Andrew vor sich. Er saß im Besuchsraum von Kirby und wartete auf sie, streckte ihr seine narbigen Hände über den Tisch hinweg entgegen, seine Lippen waren blau und geschwollen. Und in Anbetracht der kürzlich eingetretenen Veränderungen in Andrews Leben ...» Sie dachte an all die Möglichkeiten, wie sie ihn vor sich selbst hätte retten können. Sie hatte ihn im Stich gelassen. Sieh mich an, Ju-Ju! Sieh, was du mir angetan hast!» Sie hatte auch David Marquette im Stich gelassen, dessen Krankheit sie nicht von Anfang an erkannt hatte. Sie hatte dazu beigetragen, ihn vor Gericht zu bringen. Sie war dafür verantwortlich, wenn man ihn zum Tode verurteilte. Wieder quollen Tränen aus ihren Augen, doch sie spürte gar nicht, wie sie ihr über das Gesicht rannen und sich mit Schweiß vermischten. Julia lief weiter und weiter, bis die Tränen versiegten, bis sie Andy nicht mehr sah und nur noch die Musik in ihrem Kopf hörte. Dann kehrte sie um und lief zurück nach Hause. Sie hatte mehr als sechzehn Kilometer gebraucht, um den Kopf frei zu bekommen, und fragte sich, ob es irgendwann einen Moment geben würde, an dem sie den Dämonen nicht mehr würde davonlaufen können. Sie fragte sich, ob das das Ende sein würde, der völlige Zusammenbruch, und ob sie es wie Andrew und David Marquette überhaupt nicht bemerken würde. Als sich Julia ihrem Apartmentkomplex näherte, entdeckte sie die rot-silberne Harley auf dem Parkplatz. Sie blieb abrupt stehen und starrte das Motorrad einige Sekunden lang an.
« Hallo, du!», rief Lat. Er hatte auf der Treppe ihres Gebäudes gesessen, doch jetzt sprang er auf und kam ihr entgegen.
« Hi!», rief sie. Sie hatte nicht erwartet, ihn an diesem Tag zu sehen. Nach dem, was in der vergangenen Nacht passiert war, hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie John Latarrino jemals wiedersehen würde.
« Du siehst aus, als brauchtest du jemanden, der dich zum Abendessen einlädt», sagte er lächelnd, als er bei ihr angekommen war.
« Tatsächlich?», fragte sie.
« Tatsächlich.» Er zögerte für einen Moment, während Julia
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