Vater unser
Spurensicherung in einer MDPD-Windjacke an ihnen vorbei die Treppe hinaufeilte.
« Ich habe vorhin Steve Brill in die Küche gehen sehen. Er ist von der Persons Crime Squad», fuhr Sanchez fort und blickte den Flur hinunter, der zur Küche führte. Dort waren gerade einige Detectives dabei, Pete Colonna zu befragen.
« Aber ich wette, dass MiamiDade welche von der Mordkommission schickt.» Coral Gables hatte kein eigenes Morddezernat, sondern nur eine Persons Crime Squad, die sich mit Verbrechen an Personen beschäftigte.
« Ich habe gehört, dass Brill ein ganz schönes Arschloch sein kann – aber nur, wenn man mit ihm schläft», sagte Sanchez grinsend.
« Den kenn ich nicht», murmelte Demos, unfähig, seinen Blick von der Treppe zu lösen. Jedes Mal, wenn ein Blitzlicht aufflammte, lud sich die Kamera danach mit einem lauten, hohen Summton wieder auf. In der Eingangshalle hatte die Spurensicherung damit begonnen, nach Fingerabdrücken zu suchen, und bald war alles von einem feinen schwarzen Puder bedeckt. Ein bitterer Geschmack legte sich auf Demos’ Zunge. Aus der Küche hörte er, wie die Detectives Pete Colonna befragten, der immer noch heulte.
« Alles okay, Ralph?», fragte Sanchez stirnrunzelnd.
« Soll ich einen von den Sanitätern holen?»
« Armer Junge», sagte Ralph abwesend, fuhr sich mit zitternder Hand über den schweißnassen Kopf und warf einen Blick zur Küche.
« Als ich das viele Blut sah, wusste ich, dass es schrecklich werden würde, aber Pete ist doch erst seit – wie lange? –, seit einem Jahr dabei ...»
« Seine Frau kriegt bald ihr Erstes», sagte Sanchez kopfschüttelnd.
« Deswegen nimmt es ihn wohl so mit.»
« Zwillinge. Ich weiß. Ich habe es eben gehört.»
« Pete schafft das schon. Er kann zum Therapeuten gehen, wenn er Hilfe braucht.»
« Die wird er garantiert brauchen. Er wollte gleich die Haustür aufbrechen, als er hier ankam. Ich habe ihm gesagt, er soll warten. Vielleicht wäre alles anders gekommen ...» Demos verstummte, und Sanchez schwieg ebenfalls. Zwei Männer in blauen Windjacken mit der leuchtend weißen Aufschrift MIAMI-DADE COUNTY MEDICAL E X A M I N E R ’ S O F F I C E traten durch die Eingangstür. Mit einem ernsten Nicken gingen sie an Sanchez und Demos vorbei und die Treppe hinauf. Der Leiter der Gerichtsmedizin war schon vor Ort. Ralph blickte ihnen gedankenverloren hinterher.
« Wer hat den Vater gefunden?», fragte Sanchez und schob seinen Freund zurück ins Wohnzimmer.
« Ich», antwortete Ralph leise.
« Wird er durchkommen?»
« Keine Ahnung. War ziemlich schlimm zugerichtet. Sie bringen ihn ins Ryder.» Das Ryder-Unfallkrankenhaus gehörte zum Jackson Memorial Hospital in der Innenstadt von Miami, das Teil der Universitätsklinik war.
« Verdammt», murmelte Ralph und schüttelte den Kopf.
« Und die anderen?» Sanchez starrte schweigend auf den Boden. Ralph kämpfte mit den Tränen.
« Eine ganze Familie», stieß er hervor.
« Was für ein Schwein ist zu so was fähig? In was für einer Welt leben wir bloß?» Sanchez sah Ralph an, der sich Ströme von Schweiß aus der Stirn wischte. Er wirkte, als würde er jeden Moment umfallen.
« Packst du das, Ralph?»
« Ich? Ich bin in ein paar Wochen hier weg. Aber Colonna hat gerade erst angefangen, verstehst du, Carlos? Er hat die Scheiße noch vierundzwanzig Jahre am Arsch, wenn er Rente kassieren will.» Wieder explodierte ein Blitzlicht im Flur über ihnen, gefolgt von dem vertrauten Summton. Dann hörten sie Schritte auf den Steinstufen der Treppe.
« Manchmal ist dieser Job echt beschissen.» Das war alles, was Carlos Sanchez herausbrachte, als Ralph zu weinen begann. Er beobachtete schweigend, wie die beiden Männer in den blauen Windjacken den ersten der kleinen schwarzen Leichensäcke die Treppe heruntertrugen.
« Aber ich möchte nicht unter Verrückte kommen», meinte Alice.
« Oh, das kannst du wohl kaum verhindern», sagte die Katze:
« Wir sind hier nämlich alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt.»
« Woher willst du wissen, dass ich verrückt bin?», erkundigte sich Alice.
« Wenn du es nicht wärest», stellte die Katze fest, « dann wärest du nicht hier.» Lewis Carroll, Alice im Wunderland, Kapitel 6
KAPITEL 3
STAATSANWÄLTIN Julia Valenciano stand an ihrem Pult im Gerichtssaal 4.10, eine 74 Seiten lange Prozessliste vor sich und vier Kartons voller Prozessakten zu ihren Füßen, und geriet in Panik. Sie kaute auf den Innenseiten ihrer Wangen, während sie ungläubig
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