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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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auf das gelbe Formular in ihrer Hand starrte, das darüber Auskunft gab, ob sich ein Opfer dazu bereiterklärte, vor Gericht auszusagen. Mario, der sich für sie um die Koordination von Zeugen und Opfern kümmerte, hatte es letzten Freitag für sie vorbereitet.
« Staatsanwaltschaft?», knurrte der Richter ungeduldig von der Richterbank herüber. Ihre Antwort würde ihm gar nicht gefallen. Der Ehrenwerte Leonard Farley hatte heute noch üblere Laune als sonst. Julia schloss eine Sekunde lang die Augen und wünschte sich weit weg, nach Hawaii zum Beispiel. Nur fort aus diesem überfüllten, hektischen Gerichtssaal. Ein Montagmorgen in Richter Farleys Gerichtssaal war die Hölle, vor allem während ihrer Prozesswoche. 4.10, der größte Gerichtssaal im Richard Gerstein Criminal Justice Building, war gerammelt voll, und die Prozessliste quoll über vor Anklagevernehmungen, Anträgen und natürlich Verhandlungsterminen. Trotz der Schilder, die überall hingen –
« Reden, Kinder, Handys verboten» –, füllte das gedämpfte Flüstern der Opfer, Zeugen, Familienangehörigen und Angeklagten auf den Bänken hinter ihr den Raum. Zu ihrer Rechten wand sich eine Schlange von gereizten, ungeduldigen Anwälten vom Pult der Verteidigung bis in den schmalen Gang, der zur Galerie führte. Die meisten vertraten mehrere Mandanten, deren Anhörungen zum Teil gleichzeitig in verschiedenen Gerichtssälen stattfanden, aber da keiner der Anwälte es wagte, Richter Farley warten zu lassen, kamen sie alle zuerst zu ihm. Hinter Julia hatte sich eine Schlange aus Anklagevertretern gebildet. Während sie fahrig durch die Akten mit der Aufschrift Der Staat gegen Powers blätterte, hörte sie auf beiden Seiten entnervtes Seufzen. In diesem Moment öffnete sich eine Tür, und eine Reihe etwas verwahrlost wirkender Häftlinge – frisch aus dem Dade County Jail auf der anderen Straßenseite – wurde auf die Geschworenenbank geführt, an den Händen aneinandergekettet wie eine surreale Girlande von Papiermännchen.
« Darf ich jetzt?», fragte der Richter verärgert und ließ den Blick durch den Gerichtssaal schweifen, während die Vollzugsbeamten zusahen, dass die Angeklagten sich setzten. Er wartete immer noch auf Julias Antwort. Nun wandte er sich an Jefferson, den Gerichtsdiener.
« Sind hier eigentlich alle taub? Verstehen Sie mich wenigstens?» Jefferson nickte, sichtlich nervös.
« Richter», begann Julia langsam, « es sieht so aus, als hätten wir ein Problem.» Auf das gelbe Formular hatte Mario in beinahe unleserlicher Handschrift
« Opfer unkooperativ. Weigert sich auszusagen – MG» gekritzelt. Julia hätte wetten können, dass diese Worte am Freitag, als sie die Verhandlungen für Montagmorgen vorbereitet hatte, noch nicht dort gestanden hatten. Ich habe kein Problem, Frau Staatsanwältin», entgegnete Richter Farley, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Er witterte Blut, und das machte ihn glücklich. Jedem der 20 Strafrichter, die am Gericht in Miami arbeiteten, waren drei Staatsanwälte, drei Pflichtverteidiger, ein Oberstaatsanwalt sowie ein leitender Strafverteidiger zugeteilt. Die sogenannten A-Staatsanwälte und A-Pflichtverteidiger verhandelten die schweren Verbrechen, die B-Anwälte die minderschweren Verbrechen, und die C-Anwälte schlugen sich mit Vergehen wie Einbruch und Diebstahl herum. Die tatsächlich spektakulären Fälle landeten in der Regel immer bei den Kollegen der Spezialabteilungen
« Major Crimes», « Organisiertes Verbrechen», « Drogendelikte» oder « Berufsverbrechen». Es war reines Pech, dass Julia Valenciano als B-Staatsanwältin ausgerechnet Richter Leonard Farleys Gerichtssaal zugeteilt worden war – unter Kollegen besser bekannt als « Sibirien». Julia war seit fast drei Jahren Staatsanwältin, und bisher hatte sie eine Menge Glück mit ihren Richtern und Oberstaatsanwälten gehabt. Selbst am Amtsgericht, wo sie mit Ordnungswidrigkeiten und Verkehrsdelikten begonnen hatte, waren die Richter immer höflich und respektvoll gewesen. Vielleicht waren es keine Koryphäen, aber damals kam sie selbst frisch von der Uni und hatte noch eine Menge über die Regeln der Beweisführung zu lernen. Doch dann wechselte sie zum Bezirksgericht auf der anderen Straßenseite, und die Flitterwochen waren zu Ende. Der Ernst des Lebens hatte begonnen, und jetzt saß sie schon seit vier langen Monaten im Saal 4.10 fest – Sibirien, kein Ende in Sicht. Ihr

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