Vatermord und andere Familienvergnuegen
sich nie ändern, aber eigentlich ist es die Persona, die sich nicht verändert, nicht der Mensch dahinter. Hinter dieser Charaktermaske existiert ein Wesen, das sich rasend schnell entwickelt und unkontrollierbar mutiert. Glaub mir, der beständigste Mensch, den du kennst, ist höchstwahrscheinlich ein dir vollkommen Fremder, dem permanent alle möglichen Arten von Verästelungen, Seitentrieben und ein drittes Auge sprießen. Du kannst zehn Jahre Schreibtisch an Schreibtisch mit ihm sitzen, ohne die Wucherungen wahrzunehmen, die direkt vor deiner Nase entstehen. Wirklich, jeder, der dir erzählt, irgendwer habe sich seit Jahren nicht verändert, kann bloß die Maske nicht vom wahren Gesicht unterscheiden.«
»Wovon zum Teufel redest du eigentlich?«
Dad ging wieder zu meinem Bett, faltete das Kissen einmal zusammen und legte sich bequem hin.
»Was ich damit sagen will, es war immer ein kleiner Traum von mir, dass irgendwann irgendwer aus erster Hand etwas über meine Kindheit erfährt. Wusstest du zum Beispiel, dass meine körperlichen Defizite mich beinahe fertiggemacht hätten? Du hast sicher schon mal den Spruch gehört: >Nachdem sie den gemacht haben, haben sie die Gussform weggeworfen<, weil jemand so einzigartig ist. Tja, bei mir war es, als hätte man für mich eine weggeworfene Gussform wiederverwendet, kaputt und von der Sonne verformt, mit Ameisen und Pennerpisse drin. Und du wusstest wahrscheinlich auch nicht, dass ich mir ständig Beschimpfungen anhören musste, weil ich zu schlau war. >Du bist zu schlau, Martin<, sagten sie immer. >Du bist ein Oberschlauer, schlauer, als gut für dich ist.< Ich habe dann immer gelächelt und gedacht, die irren sich, denn wie kann man zu schlau sein? Ist das nicht wie zu gut aussehen? Oder zu reich sein? Oder zu glücklich? Ich habe damals nicht verstanden, dass die Menschen nur nachplappern, nicht nachdenken. Sie verdauen nichts, sie käuen nur wieder. Sie verarbeiten nichts, sie kopieren nur. Ich hatte danach nur den Hauch einer Ahnung, dass, egal, was die anderen sagen, es etwas völlig anderes ist, ob man zwischen vorgegebenen Möglichkeiten wählt oder ob man selbst nachdenkt. Der einzig wahre Weg, wirklich selbstständig zu denken, besteht darin, sich eigene Alternativen zu schaffen. Das hab ich in meiner Kindheit gelernt, und du kannst die gleiche Lehre daraus ziehen, Jasper, musst dir nur meine ganze Geschichte anhören. Dann wäre ich später, wenn die Leute über mich reden, nicht der Einzige, der weiß, dass sie ganz, ganz, ganz falsch liegen. Verstanden? Wenn die Leute dann in unserem Beisein über mich reden, werden du und ich uns ganz verstohlen wissende Blicke zuwerfen, das wird echt lustig, und vielleicht wirst du ihnen eines Tages, wenn ich tot bin, die Wahrheit erzählen, alles über mich auspacken, alles, was ich dir preisgegeben habe, und dann werden sie sich vielleicht dumm vorkommen oder auch bloß mit den Schultern zucken, >Ach ja? Ist ja interessant sagen und sich dann wieder der Gameshow zuwenden, die sie sich gerade ansehen. Aber wie dem auch sei, das bleibt ganz dir überlassen, Jasper. Ich will dich wirklich nicht nötigen, meine intimsten Geheimnisse auszuplaudern, es sei denn, du hast das Gefühl, es könnte dich bereichern, sei es in spiritueller oder finanzieller Hinsicht.«
»Dad, erzählst du mir jetzt was von Onkel Terry, oder nicht?«
»Tu ich ja - was, glaubst du, habe ich gerade getan?«
»Ich versteh nur Bahnhof.«
»Schön, also setz dich hin, sei still, und ich erzähl dir eine Geschichte.«
Nun war es so weit. Der Moment, da Dad endlich seine Version der Dean'schen Familiengeschichte preisgeben würde, seine Version, die dem mythologisierenden Raunen der ganzen Nation entgegenstand. Er begann also zu erzählen. Er redete und redete ohne Unterlass bis 8 Uhr morgens, und wenn er zwischen den vielen Worten irgendwann geatmet haben sollte, habe ich es weder sehen noch hören können - allenfalls riechen. Als er aufhörte, hatte ich das Gefühl, ich sei durch den Kopf meines Vaters gereist und irgendwie kleiner herausgekommen, als ich hineingegangen war, meiner eigenen Identität eine Spur weniger gewiss. Um seinem ungebremsten Monolog Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sollte man ihn, denke ich, am besten in seinen eigenen Worten hören - den Worten, die sein Vermächtnis an mich waren, die zu meinen eigenen wurden und die ich nie vergessen habe. Auf diese Weise lernen Sie zwei Menschen zum Preis von einem kennen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher