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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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könnte ich vielleicht die erste Leiche werden, die aus dem leeren Acker einen vollwertigen Friedhof machte, die Einweihungsleiche. Dann würde ich nicht in Vergessenheit geraten. Ja, ich schmiedete Pläne, während ich auf dem Sterbebett lag. Ich dachte an die vielen Würmer und Maden auf diesem Feld, auf die ein Festmahl wartete. Verkneift euch den kleinen Hunger zwischendurch, ihr Maden! Menschenfleisch ist unterwegs! Verderbt euch nicht den Appetit!
    Ich lag im Bett, das Sonnenlicht fiel durch den Spalt zwischen den Vorhängen, und ich konnte an nichts anderes denken. Ich griff nach den Vorhängen und riss sie auf. Den Leuten, die draußen vorbeigingen, rief ich zu: Wie sieht's aus mit dem Friedhof? Geht's voran? Ich hielt mich auf dem Laufenden. Und was ich hörte, klang gut. Die Bäume waren gefällt. Am Eingang zum Friedhof wurden Eisentore, von einem steinernen Rahmen umgeben, aufgestellt. Aus Sydney hatte man Grabplatten aus Granit herbeigeschafft; alles, was jetzt noch fehlte, war ein Name. Die Schaufeln standen schon bereit. Es konnte losgehen.
    Und dann kam diese Schreckensnachricht. Meine Eltern unterhielten sich in der Küche. Meinem Vater zufolge hatte die alte Kneipenwirtin mitten in der Nacht einen schweren Schlaganfall erlitten. Keinen kleinen, einen schweren!. Ich hievte mich mühsam hoch. Wie war das? Ja, mein Vater sagte, sie würde es nicht mehr lange machen. Sie stand also nicht bloß an der Schwelle des Todes, sie hämmerte schon laut an die Tür! Oh nein! Eine Katastrophe! Es würde ein Kopf-an-Kopf-Rennen auf den letzten Metern geben! Wer würde als Erster durchs Ziel gehen? Das alte Mädchen war fast achtzig, es hatte das Sterben also schon viel länger geübt als ich. Die Natur war auf ihrer Seite. Ich konnte nur auf mein Glück hoffen. Ich war zu jung, um an Altersschwäche zu sterben, und zu alt für den plötzlichen Kindstod. Ich hing dazwischen, ich verharrte in dieser schrecklichen Zeitspanne, in der der Mensch gar nicht anders kann als atmen.
    Als mein Vater am nächsten Tag zu mir reinschaute, fragte ich ihn, wie es der alten Frau gehe. »Nicht so gut«, sagte er. »Das Wochenende dürfte sie kaum mehr erleben.« Ich wusste, dass ich zumindest noch eine Woche, wenn nicht gar zehn Tage in mir hatte. Ich trommelte aufs Bett. Ich zerriss die Laken. Er musste mich fast niederringen. »Was ist denn mit dir los?«, brüllte er. Also weihte ich ihn ein, sagte ihm, dass ich, wenn ich schon sterben müsse, der Erste auf dem Friedhof sein wolle. Er lachte mir einfach ins Gesicht, der Mistkerl, und rief meine Mutter herein. »Rat mal, was dein Sohn mir gerade gesagt hat?« Dann erzählte er ihr alles. Sie schaute mich mit unendlichem Mitgefühl an, setzte sich auf die Bettkante und nahm mich fest in den Arm, als könnte sie so meinen freien Fall verhindern.
    »Du wirst nicht sterben, Herzchen. Bestimmt nicht.«
    »Er ist aber ziemlich krank«, meinte mein Vater.
    »Sei still!«
    »Es ist immer gut, aufs Schlimmste gefasst zu sein.«
    Am nächsten Tag erzählte mein selbstgefälliger Vater seinen Arbeitskollegen, was ich gesagt hatte. Sie lachten, die Drecksäcke. Abends dann erzählten die Männer es ihren Frauen. Die lachten auch, die Schlampen. Sie fanden das entzückend. Sagen Kinder nicht die drolligsten Sachen? Bald lachte die ganze Stadt. Dann hörten sie auf zu lachen und begannen zu überlegen. Die Frage war gar nicht so schlecht, fanden sie: Wer würde der erste Tote sein? Sollte man für die Friedhofseinweihungsleiche nicht einen Festakt veranstalten? Nicht bloß eine stinknormale Beerdigung, sondern eine richtige Show? Eine Riesenfete! Vielleicht mit einer Band? Die erste Beisetzung ist ein bedeutender Augenblick für eine Stadt. Eine Stadt, die ihre Bewohner beisetzt, ist eine lebendige Stadt. Nur tote Städte exportieren ihre Verstorbenen.
    Plötzlich erkundigte man sich von allen Seiten nach meinem Gesundheitszustand. Die Leute kamen scharenweise, um sich das Exponat anzusehen. »Wie geht es ihm?«, hörte ich sie meine Mutter fragen. »Ihm geht es gut«, antwortete sie genervt. Sie drängten sich an ihr vorbei in mein Zimmer. Sie mussten sich selbst davon überzeugen. Dutzende von Gesichtern spazierten durch mein Zimmer und belauerten mich erwartungsvoll. Von der Krankheit niedergestreckt, totenstill, so wollten sie mich sehen. Dessen ungeachtet waren sie alle sehr gesprächig. Wenn die Leute glauben, deine Tage wären gezählt, sind sie wirklich nett zu dir. Aber wenn du

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